Gewalt-Freiheit – Friedenstheologie als Befreiungstheologie – Teil 1

Wäre Jesus tatsächlich immer gewaltfrei geblieben? War er das überhaupt? Welche Rolle spielt Gewaltfreiheit in der Gesamtstruktur der Bibel und christlicher Theologie? Ist es nur ein Anhängsel und eine nette Sonderlehre, oder geht es hier (wie ich argumentieren werde) um den Kern des Glaubens?
Diese Fragen werden mir immer wieder gestellt und ich stelle sie mir angesichts des brutalen Angriffskriegs in der Ukraine auch. Hier ein theologischer Versuch, der ursprünglich aus einer Emailkorrespondenz entstammt.

Es gibt sehr unterschiedliche Theologien die unter „Gewaltfreiheit“ oder „Pazifismus“ laufen. Ich lerne von vielen von ihnen, muss aber gerade auch in der jetzigen Situation merken, dass ich mit manchem, was zur Zeit von „Pazifisten“ wie Richard David Precht oder Alice Schwarzer gesagt wird, überhaupt nichts anfangen kann. So viel mal als Vorbemerkung.

Die Frage nach der Gewalt und der Gewaltfreiheit ist entscheidend nicht nur um Jesus zu verstehen, sondern für das Verständnis der Bibel insgesamt.

Die Bibel ist eine Erzählung von der Befreiung von der Gewalt, heraus aus den Gewaltspiralen, in die wir uns schon seit Menschengedenken verstrickt haben und alleine nicht herauskommen. Hier ist die Erzählung von Kain und Abel entscheidend. Der erste Mord ist ein Brudermord, das kategorisiert dann auch alle folgenden Morde.

Dies ist auch die erste Stelle an der das Wort „Sünde“ auftaucht, ein Hinweis, das das Problem, um das es in der Bibel geht, elementar mit der Gewalt zu tun hat. Das Kainsmal, das Gott als Tabu des Tabus setzt um Kain vor der Blutrache zu schützen, wird von Lamech als Legitimation einer Gewaltspirale missinterpretiert: „Wird Kain siebenfach gerächt, dann Lamech siebenundsiebzigfach.“ (Gen 4,24) Dagegen versucht das berühmte „Auge um Auge“ (lex talionis) eine Einschränkung der Rache – und wahrscheinlich sogar auch Formen der Entschädigung (darüber streiten die Exegeten).

Jesus dagegen schlägt in Matthäus 18 einen ganz anderen Weg vor, mit Konflikten umzugehen:
Durch Mediation, die dem Opfer die Initiative gibt und wenn nötig durch die Gemeinschaft unterstützt wird, mit dem Ziel sowohl Opfer als auch den Täter wieder in die Gemeinschaft einzubinden. Dieses Modell steht in starkem Kontrast zur Idee der „strafenden Gerechtigkeit“ das heute noch unser Rechtssystem charakterisiert. Mennoniten und andere haben inspiriert davon in Nordamerika ein Modell der „wiederherstellenden“ oder „heilenden Gerechtigkeit“ entwickelt (restorative justice) das darauf zielt, gerechte Beziehungen wiederherzustellen. Am Ende der „Gemeinderede“ im Matthäus 18 fragt Petrus nach den Grenzen solcher Gerechtigkeit und der Vergebung. Jesu Antwort greift Lamechs Gewaltspirale wieder auf: „Sieben mal siebenundsiebzigmal sollst du vergeben.“ Matthäus 18,22

Das war ein langer Anlauf, aber es war eine Tiefenbohrung um die Brisanz der Gewaltfrage für die biblische Geschichte zu verdeutlichen und auch zu erklären, warum ich von Gewaltfreiheit spreche und nicht Gewaltlosigkeit (obwohl mein Text in der Eule leider von der Redaktion so betitelt wurde).

Wenn ich Gewalt sage, meine ich damit aber nicht nur blutige Gewalt, sondern viel umfassender auch alle Formen von struktureller und kultureller Gewalt, wie sie Johann Galtung definiert hat. Strukturelle Gewalt ist Gewalt in den Strukturen, die oft verschleiert sind. Also ist auch Armut Gewalt und der von den fossilen Konzernen angeheizte Klimawandel natürlich auch (siehe zB: https://de.wikipedia.org/wiki/Gewaltdreieck). Kulturelle Gewalt sind die Ideologien, die Gewalt und Ausgrenzung legitimieren, sowie die kulturellen Praktiken der Ausgrenzung und Missachtung.

Das ist ziemlich umfassend und wenn wir ehrlich sind, sind wir darin verstrickt. Die Bibel spricht hier von Sünde und von der Herrschaft widergöttlicher Mächte und Gewalten (zB im Epheser- und Kolosser brief, aber auch bereits im Danielbuch und natürlich auch in der Versuchung Jesu in der Wüste). Diese hat Jesus in Kreuz und Auferstehung entblößt und über sie triumphiert (Kolosser 2,15 – hier wird bewusst die Sprache und Praxis römischer Triumphzüge aufgenommen und subvertiert!)

Aber nicht nur Kreuz und Auferstehung sind wichtig. Jesu Leben und Lehrer zeigt einen Weg heraus aus der Gewalt. Der Theologe Walter Wink hat dies ziemlich überzeugend in seiner Triologie Naming, Unmasking and Engaging the Powers aufgezeigt. (Eine Zusammenfassung dieser Bücher ist auf deutsch als Verwandlung der Mächte. Eine Theologie der Gewaltfreiheit im Friedrich Pustet Verlag erschienen. Sehr empfehlenswert.) Die Bergpredigt und insbesondere die Anweisung die andere Wange hinzuhalten, den Mantel zu geben und die zweite Meile zu gehen, interpretiert Wink als Formen aktiver Gewaltfreiheit, die mit Kreativität einen Weg zwischen Passivität und Gegengewalt sucht und dabei die Initiative und eigene Würde und Macht zurückgewinnt.

Hier kurz eine Zusammenfassung von Winks Exegese von Matthäus 5:38-39: „wenn dich jemand auf die rechte Wange schlägt, dann halte ihm auch die andere hin.“

Der Text hält fest, dass auf die rechte Wange geschlagen wird. Doch das ist seltsam, da wir davon ausgehen müssen das mit der Rechten Hand geschlagen würde, weil kulturell die linke unrein war. Also entsteht ein Schlag mit der Rückhand. Kein Faustschlag, keine klatschende Ohrfeige, sondern ein erniedrigender Schlag von oben herab.
Was geschieht wenn ich die andere Wange hinhalte? Ich blicke dem Gegenüber in die Augen und bestehe auf meiner Würde.
So ähnlich auch die nächsten zwei Beispiele:
•    Mantel geben – Schuldenspirale, Gerichtskontext, kreative Gewaltfreiheit, nutzt die Macht der Scham
•    zweite Meile gehen: römische Besatzungssoldaten durften Juden zwingen eine Meile ihr Gepäck zu tragen. Aber nicht mehr. Die zweite Meile freiwillig zu tragen, stürzt den Soldaten in ein Dilemma, wenn es jemand mitkriegt könnte er bestraft werden!

Das sind kreative Beispiele, keine Regeln. Manches kann nicht wiederholt werden!
Jesus zeigt einen dritten Weg zwischen Nichtstun (Gewalt erleiden) und sich mit Gewalt wehren – den Weg des gewaltfreien Widerstands.

Mit dieser Lesart entdecken wir plötzlich viele Formen des gewaltfreien Widerstands an vielen Stellen der Bibel, nicht nur bei Jesus, sondern auch in der Apostelgeschichte, der Johannesoffenbarung und massenhaft auch in der hebräischen Bibel. Denken sie nur an Shipra und Puah, die Hebammen, die sich den Befehlen des Pharao widersetzen in Exodus 1. Vielleicht sind auch einige der Geschichten im Buch Richter eher Abrüstungsgeschichten, etwa Gideon, der immer mehr seiner Männer wegschickt, um dann eine Art psychologische Kriegsführung zu begehen – Richter 7. Manches ist keine „pure“ Gewaltfreiheit, aber doch eine erstaunliche Bewegung dorthin, was natürlich auch damit zu tun hat, das gewaltfreier Kampf historisch oft eine der „Waffen der Schwachen“ ist (der Begriff kommt vom Ethnologen James C. Scott, der unsichtbaren und alltäglichen Widerstand in bäuerlichen Gesellschaften untersucht hat)

Mir geht es eher um diese Richtung, als um absolute Gewaltfreiheit. Und mir geht es wie gesagt um eine Art Befreiungstheologie, was auch heißt, dass es eine Theologie von unten ist und kontextuell unterschiedlich aussehen wird. Ich bin skeptisch ob staatliche Strukturen diese Art der Sicherheit überhaupt etablieren können. Dennoch sollten wir sie nicht zu schnell aus der Verantwortung entlassen.

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