Gewalt-Freiheit – Friedenstheologie als Befreiungstheologie – Teil 2

Wäre Jesus tatsächlich immer gewaltfrei geblieben? War er das überhaupt? Welche Rolle spielt Gewaltfreiheit in der Gesamtstruktur der Bibel und christlicher Theologie? Ist es nur ein Anhängsel und eine nette Sonderlehre, oder geht es hier (wie ich argumentieren werde) um den Kern des Glaubens?
Diese Fragen werden mir immer wieder gestellt und ich stelle sie mir angesichts des brutalen Angriffskriegs in der Ukraine auch. Hier ein theologischer Versuch, der ursprünglich aus einer Emailkorrespondenz entstammt. Im ersten Teil bin ich grundsätzlich auf das Gewaltproblem und die Befreiung von der Gewalt und zum gewaltfreien Widerstehen eingegangen. Im zweiten Teil frage ich was Gewaltfreiheit konkret für von Gewalt bedrohte Menschen bringen könnte.

Was tragen diese Überlegungen zur Genese der Gewalt und der Dynamik von Gewaltspiralen für konkrete Situationen aus? Was bringt es jemand, die konkret Gewalt erleidet, zu wissen, dass Gegengewalt die Gewaltspirale vorantreiben könnte? Zunächst einmal gar nichts, wie jede theoretische Überlegung.
Oder vielleicht doch? Wäre es nicht wichtig, Strategien und Taktiken zu kennen und einzuüben, die mich einerseits schützen und gleichzeitig auch die Bedingungen der Möglichkeit schaffen, mich nicht dauernd verteidigen zu müssen?

Gewaltfreie Strategien könnten für von Gewalt bedrohte hilfreich sein, weil sie eben beides im Blick behalten: Gewalt konkret stoppen und Versöhnung möglich machen. Dazu kommt, dass ziviler Widerstand wesentlich niedrigere Hürden zur Teilhabe hat und auch nicht auf militärische Ausbildung und Ausrüstung angewiesen ist. Er kann eingeübt werden auch wenn die scheinbaren Verbündeten keine Waffen liefern oder die erhoffte militärische Unterstützung verweigern.
Außerdem legt der Vergleich mit bewaffnetem Widerstands nahe, dass gewaltfreier Widerstand häufiger erfolgreich ist. Das wäre dass doch auch ein Grund sich ernsthaft damit auseinanderzusetzen, ob das in meiner Situation ein gangbarer Weg wäre zu widerstehen?

Um eine Chance auf Erfolg zu haben, muss Widerstand nicht nur mutig, sondern auch klug sein. Es braucht eine genaue Analyse der Situation. Was sind die Schwächen des Gegners, eigene Stärken, welche Möglichkeiten gibt es Dritte einzubinden oder von der Parteinahme für den Gegner abzuhalten? Auf welchen Säulen ruht die Macht meines Gegners besonders, wo gibt es interne Konflikte und Schwachstellen, die ausgenützt werden müssen? Ich stimme der Wahrnehmung des Militärseelsorgers Roger Mielke zu, dass es in der evangelischen friedensethischen Diskussion bisher an Kontextsensitivität mangelt. Dies gilt m.E. aber nicht nur ethisch, sondern auch strategisch. Eine kategorische, kontextblinde Friedenstheologie, nützt höchstens zur Beruhigung der Gewissen der Unbeteiligten.
Das heißt auch, dass Friedenstheologie niemals triumphalistisch sein darf, sondern mit den Opfern der Gewalt mitleidet. Sie muss demütig um das eigene Nichtwissen wissen und die Möglichkeit des Scheiterns vor Augen haben. Eine Friedenstheologie, die Gewaltfreiheit als Erfolgsgarantie behauptet ist unglaubwürdig und verleugnet das Kreuz. Gleichzeitig läuft eine Theologie, die Gewaltfreiheit mit Verweis auf die Gefallenheit der Welt kleinredet, Gefahr die Auferstehung und ihre verwandelnde Kraft zu leugnen.
Wenn, wie ich im ersten Teil argumentiere, Friedenstheologie Gottes Handeln in Jesus nachspürt und nachahmt, der aus der tragischen Unausweichlichkeit Gewaltspiralen zur Gewaltfreiheit befreit, dann kann es nicht darum gehen aus der sicheren Entfernung vorzuschreiben. Vielmehr ist es Aufgabe einer Friedenskirche gewaltfreie Handlungsoptionen aufzuzeigen und damit im eigenen Leben der Kirche zu experimentieren, um sie zu plausibilisieren und so glaubwürdig zu machen.

Es sollte bei Friedenstheologie, insbesondere wenn sie Befreiungstheologie sein will, NIE darum gehen diejenigen zu verurteilen, die aus der Verzweiflung und der Liebe für ihre Nächsten zu den Waffen greifen, wie Walter Wink richtig festhält:

Die Wahrheit ist, Gewaltfreiheit funktioniert fast überall wo Gewalt funktionieren würde und wo sie scheitert würde Gewalt wohl auch scheitern. Es könnte sein, dass beide im Russland Stalins effektiv gewesen wären und bisher haben beide in Burma keinen Erfolg gehabt. … Es mag Situationen geben, die so extrem sind, dass niemand sich irgendeine Alternative zur Gewalt vorstellen kann.
Auch wenn keine der gewaltfreien Optionen machbar erscheint, werden die meisten aggressiven, gewaltsamen Optionen schlimmer sein. Aber es kann sein, dass eine Situation entsteht, in der eine unterdrückerische Macht jede Gelegenheit Gerechtigkeit zu üben verspielt hat und die Menschen nicht länger in der Lage sind noch mehr zu erleiden. Dann ist die Gewalt, die eine Nation heimsucht eine Art apokalyptisches Gericht, die niemanden unversehrt lässt… Christenmenschen haben kein Recht, diejenigen zu verurteilen, die aus Verzweiflung heraus zur Gewalt greifen. Die Schuld liegt bei denjenigen, die die Gerechtigkeit ignoriert und die Stunde ihrer Heimsuchung verkannt haben.

Walter Wink, Engaging the Powers, 25th anniversary edition 2017, S. 256 (1. Auflage 1992)
Übersetzung Benjamin Isaak-Krauß

Gleichzeitig hat mich meine eigenen Erfahrungen und das historische Studium zu einer Hermeneutik der Gewaltfreiheit gebracht. Was ich damit meine und wie es uns eine neue Lesart der Bibel und der (Kirchen)geschichte eröffnet, darum geht es im nächsten Teil.

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