Zerstreute Gedanken zu Diaspora 3: (Mennonitische) Identität als Wurzel oder Weg?

Dies ist der dritte Teil einer Serie zerstreuter Gedanken zu Diaspora, und anhängenden Themen. Der erste Teil handelte vom Verhältnis Soziologie-Theologie, zweite Teil beschäftigte sich mit der Metapher der Zerstreuung. Im dritten Teil geht es nun darum, wie wir unsere Geschichte erzählen.

Wie so oft in Gespräch über die Zukunft mennonitischer Gemeinden dreht sich irgendwann alles um Geschichte. Die entscheidende Frage ist, wie so oft, „unsere mennonitich-täuferische Identität“. Aber was meinen wir damit?

Stuart Hall, ein jamaikanisch-britischer Theoretiker der Diaspora prägte den Satz

„Identity is a route, not a root.“

[1: Quelle u.a. hier, eine kurze Einführung in Halls Denken hier]

Das Wortspiel ist unübersetzbar, aber die Unterscheidung zwischen einem Identitätsdenken ist eher ein Weg, als eine Wurzel ist, ist m.E. sehr fruchtbar. Man muss das nicht so ausschließlich sehen, um zu sehen, dass das Bild der Wurzel eher den Fokus auf das Konstante und der Weg eher auf die Veränderung setzt.

Wie erzählen wir unsere Geschichte? Meines Erachtens dominiert das Bild der Wurzel doch sehr. Wir erklären die Täufer des 16. Jahrhunderts, oder unser Bild von ihnen, zumindest implizit zum normativen Ideal, an dem sich die mennonitische Identität messen lassen muss (und meist für ungenügend befunden wird). Das ist auch nicht nur schlecht. Harald S. Benders Anabaptist Vision hat mindestens einer ganzen Generation geholfen, ihren mennonitischen Glauben inmitten dieser Welt zu leben.

Aber was bei dem starren Blick auf die Vision verloren geht ist der Blick auf den Weg der hinter uns liegt, und die vielen neuen Erkenntnisse und Irrwege auf ihm. Nur wenn wir den Weg im Blick behalten können wir sinnvoll erklären, warum die Mitglieder der größten mennonitischen Kirche der Welt, der Meserete Kristos Church in Äthiopien echte Mennoniten sind. Lustigerweise ist fast alles, was als typisch mennonitisch gilt –plattdeutsch, Borscht, Mate, Dutch Blitz, Four Part Harmonie oder Quilts–,

  1. nicht von allen Mennoniten geteilt, sondern nur von denen, die gemeinsam auf einem Weg waren,
  2. gerade nicht nur etwas mennonitisches, sondern ein Mitbringsel aus einer früheren Wegstation, dass in der „neuen Heimat“ fehl am Platz wirkt

In der globalisierten Mennonitischen Weltgemeinschaft kommt ein neues Paradox hinzu: Einerseits zählen nur manche materiellen Praktiken als „mennonitisch,“ während andere fehlen, entsprechend des hegemonialen Bildes dessen wer die „echten“ Mennoniten sind. So fehlen etwa afrikanische und asiatische Kulturpraktiken in dieser Liste der „typisch mennonitischen Dinge,“ die sehr von den weißen Mennoniten in Nord- und Südamerika definiert wird. Andererseits eignen sich andere diese Symbole und Praktiken an, machen sie zu ihren eigenen Praktiken und definieren sie damit auch um. Postkoloniale Theorien könnten hier sehr hilfreich sein, um die Dynamiken, die hier am Werk sind, besser zu verstehen. Auch der Platz Europas, in der Aushandlung globaler mennonitisch-täuferischer Identität ist widersprüchlich. Einerseits nimmt Europa—insbesondere die Schweiz, Deutschland, und die Niederlande—als imaginierte Heimat einen zentralen Platz ein. Andererseits steht das echte täuferische Europa heute schnell im Schatten dieser vorgestellten glorreichen Vergangenheit und wird gleichzeitig zum Auslaufmodell erklärt.

Auch hier verdeckt die Wurzel wieder den Blick auf den Weg. Vielleicht wäre es ein Anfang, wenn wir aufhören würden so zu tun, als wären wir so verwurzelt in der täuferisch-mennonitischen Geschichte, und als hätten die Neuen so viel Nachholbedarf. Vielleicht geht es vielmehr darum, unsere eigene Entwurzelung (Nebenprodukt der Moderne und Globalisierung?) wahrzunehmen und gemeinsam zu versuchen, uns neu zu verwurzeln in Gottes Erde und der Geschichte Gottes mit den Menschen, durch alle Bodenschichten der Kirchengeschichte hindurch.

Dieser Ansatz verstünde Verwurzelung als spirituelle Geneaologie, und nicht als biologische. Das biologistische Paradigma ist in vielerlei Hinsicht problematisch. Vor allem aber vergessen wir dabei, dass wir nur aufgrund der Verfolgung und der uns aufgezwungenen Isolation zu einem „Völkchen“ geworden sind. Ethnologen und Historiker sprechen hierbei von einem Prozess der Ethnogenese, in dem aus sozialen Bewegungen unter widrigen gesellschaftlichen Bedingungen eine „Ethnie“ wird, unter anderem durch den Prozess der Endogamie, Heirat innerhalb der Gruppe. Weil wir dem Mythos ethnischer Verwandtschaft aufgesessen sind, statt die fiktive Dimension der Verwandtschaft herauszuarbeiten und kreativ zu nutzen, fällt es uns so schwer, andere zu uns hereinzulassen. Und natürlich hilft das historische Trauma der Verfolgung und begrenzten Duldung auch nicht.

Was mit dem Bild der Wurzel aus dem Blick gerät ist auch, dass es DEN Ursprung gar nicht gab. Vielmehr gab es viele Aufbrüche, die dennoch erstaunlicherweise wie ein Wurzelnetzwerk miteinander kommunizierten und einander beeinflussten. Welche Bilder gibt es, die diese Vielfalt in Verbundenheit, Wandel in Treue, Ringen und gegenseitige Hilfe ausdrücken können? John Roth benutzt gerne das Bild des Rhizoms, das unterirdisch verbunden ist, auch wenn es von der Oberfläche betrachtet so aussieht, als handle es sich um verschiedene Pflanzen. Das Problem allerdings ist, dass Rhizome sich durch Selbstklonung reproduzieren. Zusätzlich droht der Bezug zum Rest des Ökosystems (Ökumene und Welt) verloren zu gehen.

Der vierte und vorläufig letzte Teil der Serie wird sich mit Ökumene und Ökologie beschäftigen.

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