Zerstreute Gedanken zu Diaspora 1: Soziologie und Reframing

Dies ist der erste Teil einer Serie zerstreuter Gedanken zu Diaspora, und anhängenden Themen.

Gestern war ich mal wieder in einem Zoom-Treffen. Thema: „Diaspora.“ Gemeint ist die Minderheitensituation unserer mennonitischen Gemeinden und vielerorts des christlichen Glaubens im Allgemeinen. Auch die langen Fahrtwege und die Vereinzelung vieler Geschwister, die ganz ohne Gemeinde in ihrer geographischen Nähe ihren doch so auf Gemeinschaft bezogenen Glauben leben. Und mitten in diese Gemengelage hinein, immer noch verwirrend, überfordernd, aber doch auch aufregend, kommt noch die uns durch die Pandemie aufgedrängten Fragen der Digitalisierung mit allen Chancen, Risiken und Nebenwirkungen.

Diaspora, ein spannendes und wichtiges Thema, das viele neue Themen aufwirft. Eigentlich hätten wir uns ein ganzes Wochenende in einer Jugendherberge getroffen, um unter dieser Perspektive über Gegenwart und Zukunft mennonitischer Gemeinden zu reden. Übrig geblieben ist nur ein Vormittag mit Impulsvortrag, Kleingruppen und kurzem Austausch im Plenum. Dabei kam natürlich weniger rum, aber es war doch ein anregender Morgen, der mich weiter beschäftigen wird.

Beim Schreiben danach bemerkte ich eine ganze Flut an Ideen, die ich schlaglichtartig in den nächsten Blogposts bearbeiten werde. Dieser Artikel dreht sich um das Verhältnis von Soziologie und Theologie, sowie dem Begriff der Diaspora als Beispiel der Relevanz von Theologie.

Soziologie > Theologie?

In ihrem Vortrag erzählte Andrea Lange, wie heimisch sie sich als Urlaubsvertretung in der deutschsprachigen evangelischen Gemeinde auf Kreta gefühlt hatte. Trotz sehr unterschiedlicher Theologie war die Gemeinsamkeit, eine „kleine Kirche“ zu sein, ein verbindendes Element, dass auch die Gemeindepraxis in ähnlicher Weise prägte (gemeinsam Essen, intensiverer Austausch, weniger Anonymität). Andere teilten ähnliche Erfahrungen. Umgekehrt habe ich in den USA erlebt, wie sich bei einer größeren Gruppe institutionelle Prozesse entwickeln, die mich eher an die Landeskirche erinnerten. Dies alles wirft die Frage auf, welche Rolle eigentlich unsere Theologie überhaupt spielt, oder ob die soziologische Situation unserer Gemeinden (auch was Klasse, Rechtstatus, ethnische Zusammensetzung, Behinderungen, und andere Differenzlinien angeht) nicht eine viel entscheidendere Rolle spielen?

Als biblischer Theologe hoffe ich natürlich, dass die Geschichten, die wir erzählen und in denen wir uns verwurzeln schon eine Rolle spielen, gerade um kritisch und konstruktiv über unsere soziologische Existenz nachzudenken und etwa Jesus an die Ränder zu folgen. Aber zumindest sollten wir festhalten, dass eine Theologie, die blind für ihren Sitz im Leben ist, naiv ist und unsere Geschöpflichkeit nicht ernst nimmt.

Diaspora als positives Reframing des Exils

Ein Beispiel für die Relevanz von Theologie ist der Begriff der Diaspora selbst. Er entwickelt sich aus der Exilserfahrung des Volkes Gottes nach der Zerstörung Jerusalems und des ersten Tempels durch Babylon. An diesem kollektiven Trauma zerschellte das Gottes- und Weltbild Israels. Aber aus den Scherben ihres bisherigen Glaubens und der überraschenden Erfahrung, dass ihr Gott auch in Babylon weiter zu ihnen sprach, wuchs die Überzeugung, dass JHWH nicht nur ihr einziger Gott war, sondern der einzige Gott überhaupt, der Schöpfer der gesamten Welt, inklusive unserer Feinde. Das Exil war im Nachhinein eine unglaublich fruchtbare Zeit: der Großteil der Hebräischen Bibel entstand in oder nach der Exilszeit.

Soviel ist wahrscheinlich bekannt, aber m.E. noch interessanter ist, dass auch als es den Verschleppten erlaubt war, nach Jerusalem zurückzukehren, nur wenige in die alte Heimat zurückkehrten. Zwar blieb Jerusalem und der neue Tempel ein wichtiger Bezugspunkt, aber sie hatten auch eine neue Heimat in der „Fremde“ gefunden, wie etwa das kanonische Buch Esther, oder das apokryphe Tobitbuch, dokumentiert. (Und wie das Doppelbuch Esra/Nehemia zeigt, waren die Rückkehrer*innen und die Daheimgebliebenen einander ebenfalls fremd geworden, die Frucht dieser Entfremdung war die Spaltung in Juden und Samariter.)

In diesem Zusammenhang wird der Begriff Diaspora (griechisch: Verstreuung) vom Gerichtswort zum ambivalenten Segen gewendet. Der Schmerz und die gebrochene Identität bleibt, aber darin wird Gottes Vorsehung bekannt und die Minderheitensituation als Segen für die Völker interpretiert. Heute sagen wir dazu „reframing:“ Welchen Rahmen gebe ich einem Sachverhalt? Wie erzähle ich die Geschichte? Welche Metaphern und Bilder nutzen wir?

Der zweite Teil dieser Serie beschäftigt sich mit der Metapher der Zerstreuung.

3 Kommentare

  1. Vielen Dank, Benni,
    für das Aufgreifen und Weiterdenken des Diaspora Themas in einem Zoom Treffen und dem Vortrag von Andrea Lange. Ich habe leider etwas verpasst.
    Das theologische Refraiming der Zwangsmigrationserfahrung Israels vom Exil zur Diaspora sich bewusst zu machen finde ich inspirierend.

  2. Einen umgangssprachlich verstandenen Diaspora Begriff zu gebrauchen, um die eigene Minderheitensituation zu charakterisieren, greift m. E. aber zu kurz. Als ich vor einigen Jahren niederländische Mennoniten immer von den Mennoniten in der Diaspora reden hörte hat mich das sehr irritiert. Gemeint waren offenbar alle, die außerhalb der Niederlande oder den historischen Entstehungsgebieten leben. Dass ich in der Diaspora leben würde, war mir als „nicht-geborener Mennonit“ noch nie in den Sinn gekommen. Wer mit dem Diaspora-Begriff arbeiten will, muss seine Heimat definieren. Das kann man soziologisch geografisch, kulturell, ethnisch, national oder eben auch theologisch tun.

    Letzteres zu tun macht die Sache m. E. besonders interessant und bedeutsam – besser gesagt entscheidend, wenn es um täuferisch-mennonitische Gemeinden und ihre Entwicklung geht. Auf dem Weg einer theologischen Definition kommen wir dann sicherlich an dem Begriff Identität vorbei, über den auch gerne zweifelnd bis verzweifelt gewitzelt wird. Da gefällt mir die Stuart Hall Formulierung „Identity is a route, not a root.“ In diesem Sinn ist das Ziel der Weg. In der Tat sehe ich ebenfalls eine der grössten Herausforderungen darin, als Einzelne wie als Gemeinde und Gemeindeverband sprachfähig und sprachfähiger zu werden hinsichtlich dessen, wie wir Christsein/Nachfolge Jesu verstehen und leben. Sprachfähigkeit „nach innen“ wie „nach aussen“ ist gefragt. Hier spielt jedoch auch die Einsicht des Sprichwortes eine Rolle: „Wes‘ das Herz voll ist, des‘ geht der Mund über.“.

    Also noch mal: Den Diaspora-Begriff positiv zu verstehen und womöglich sogar nutzbar zu machen erfordert die Klärung dessen, was uns – theologisch, geistlich wie lebenspraktisch – „Heimat“ ist. Ntl. Begriffe wie „Hausgenossen Gottes“ oder „Bürger des Himmels“ kommen mir da in den Sinn.
    Und – Zustimmung! – das braucht, wie im Blog ausgedrückt, mehr als den Rückgriff auf eine, wie auch immer interpretierte, Täuferbewegung. Es braucht die biblische Perspektive. Ob dabei allerdings die Salzmetapher aus Mt 6,13 wirklich hilft erscheint mir zumindest diskussionswürdig. In Zusammenhang der Diaspora vom Salzfass und „Raus aus dem Salzfass“ zu reden ist zwar flott und einprägsam. Allerdings überstrapaziert diese, sonst gern im missiologisch und evangelistischen Kontext, gebrauchte Rede das von Jesus gebrauchte Bild. Erst recht, wenn daraus „Nichtzerstreuung als Problem“ abgeleitet wird. Schließlich geht es hier nicht um Quantität (“mehr Salz machen“), sondern beschrieben wird die Qualität der Jesus Nachfolge. „Ihr seid das Salz der Erde“ ist nun mal ein Zuspruch aus der Bergpredigt, eine Zuschreibung (ihr seid – nicht ihr sollt sein o.ä.). Damit zielt Jesus „auf eine neue Sozialordnung der Jesusgemeinschaft!“ (Bernhard Ott).
    Wie diese neue Sozialordnung mit den dazugehörigen Tugenden theologisch-geistlich zur Heimat wird interessiert mich. Und falls uns auf diesem Weg Diaspora zum hilfreichen Stichwort oder Sprungbrett werden sollte, soll es mir durchaus recht sein.

  3. Hallo Frieder,

    Danke für deinen ausführlichen Kommentar!
    Einiges ist sicher unsauber argumentiert, war ja auch eher ein Erguss aus den Gesprächen.
    Aber ich finde du hast den Punkt meiner Ideen sehr gut verstanden, und auch in der Kritik konstruktiv weitergeführt.

    Zur Nichtzerstreuung, sollte ich wohl noch weiter ausholen, aber im Grunde genommen, sehe ich eine sehr starke Tradition in der Bibel, die Zerstreuung statt Konzentration fordert, u.a. auch als Kritik an imperialen Strukturen.

    Das fängt in Genesis 1 an „seid fruchtbar und mehret euch, füllt die Erde“ – das heißt, nicht dominiert die Erde wie wir es verstehen und auch leider praktizieren, sondern verteilt euch über die ganze Erde, aus der Perspektive einer menschlich gesehen „leeren Erde“ die es ja den überwiegenden Teil der Menschheitsgeschichte gab.
    Dieser Auftrag wiederholt sich nach der Sintflut.
    Die Turmbaugeschichte ist die Umkehrung dieser Forderung (wie Jakob Fehr in einer Predigt sehr gut herausgearbeitet hat – im Anschluss an Ched Myers, u.a.) und Gottes „Strafe“ besteht darin, die ursprüngliche Vielfalt wiederherzustellen und Machtkonzentration zu verhindern.

    Dann beginnt mit Abraham und Sarah bereits die Tradition des Auszugs aus imperialen Zusammenhängen, die sich im Exodus dann auf das ganze Volk ausweitet, und sich dann über die Propheten bis zur Johannesoffenbarung durchzieht („Kommt heraus ihr, mein Volk“ Offb 18,4). Auch Jesus steht mit Johannes dem Täufer in dieser Tradition wie schon die Taufe in der Wüste und am Jordan als Alternative zum zentralheiligtum in Jerusalem zeigt.
    In der Apostelgeschichte wiederum geht die Mission erst richtig los, als die Jerusalemer Gemeinde sich zerstreuen MUSS, aufgrund der einsetzenden Verfolgung.

    Von daher finde ich schon, dass man behaupten kann, dass Teile der Bibel das Problem eher in der Nichtzerstreuung sehen.

    Du verweist darauf, dass das Bild vom Salz (wie auch vom Licht) sich um Qualität nicht Quantität dreht.
    GENAU! Vielleicht sollte es darum vielmehr gehen, wenn wir von Mission sprechen.
    Das ist es grade was ich herauskitzeln wollte.

    Hier finde ich auch Lederach spannend, der in Moral Imagination das Bild der kritischen Masse durch das der „kritischen Hefe“ (auch ein Gleichnis Jesu!) ersetzt.
    Man könnte auch Katalysator sagen. Oder wie Martin Luther King Jr. sagte: „Die Kirche sollte nicht das Thermometer einer Gesellschaft sein, sondern das Thermostat.“

    Aber eben von unten, und von den Rändern, und von überall her, nur nicht von oben, und nicht in dem Sinne, dass wir nur mit vielen etwas bewegen können.

    https://hayleyleverblog.wordpress.com/2019/06/17/the-art-and-soul-of-building-a-movement-the-critical-yeast/

    Allan Kreider’s Lebenswerk und insbesondere sein letztes Buch „Patient Ferment of the Early Church“ wäre die Analogie in einer explizit missiologischen Diskussion.

    Grundsätzlich sehe ich sehr große Analogien zwischen missiologischen Debatten und den Debatten innerhalb sozialer Bewegungen, was ich auch irgendwann mal besser ausführen sollte.

    Ich freue mich, dass du den Ball aufgenommen hast, und würde gerne weiter reden.

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