(Diese Predigt habe ich am 19.10. in der Mennonitengemeinde Bammental gehalten)
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus sei mit uns allen.
Ich lese aus dem Evangelium des Markus Kapitel 4, Verse 35-41
Und am Abend desselben Tages sprach er zu ihnen: Lasst uns hinüberfahren. Und sie ließen das Volk gehen und nahmen ihn mit, wie er im Boot war, und es waren noch andere Boote bei ihm. Und es erhob sich ein großer Windwirbel und die Wellen schlugen in das Boot, sodass das Boot schon voll wurde. Und er war hinten im Boot und schlief auf einem Kissen. Und sie weckten ihn auf und sprachen zu ihm: Meister, fragst du nichts danach, dass wir umkommen? Und er stand auf und bedrohte den Wind und sprach zu dem Meer: Schweig und verstumme! Und der Wind legte sich und es entstand eine große Stille.
Und er sprach zu ihnen: Was seid ihr so furchtsam? Habt ihr noch keinen Glauben?
Sie aber fürchteten sich sehr und sprachen untereinander: Wer ist der? Auch Wind und Meer sind ihm gehorsam!
Dieser Text ist mir sehr vertraut durch Kindergottesdienst, Freizeiten und zahlreiche Predigten in dieser Gemeinde. Wenn ich den Text lese, lese ich die Auslegungen, die ich über die Jahre gehört habe, immer schon mit und es wird schwierig, den Text selbst sprechen zu lassen.
Es wird auch schwierig, meine Situation, die Situation unserer Gemeinde und die Lage der Welt sprechen zu lassen und die beiden, den uralten Text und unsere Wirklichkeit heute miteinander ins Gespräch zu bringen. Aber genau das soll ja eine Predigt sein: Gottes Wort in unsere Wirklichkeit hinein.
Gott spricht immer wieder neu in unsere Wirklichkeit hinein. Dies geschieht auf viele Arten, unter anderem auch durch uns vertraute biblischen Texte, die auf einmal ganz neu und fremd erscheinen.
Ich habe heute noch eine zweite Geschichte mitgebracht, die ich neben den vertrauten biblischen Text stellen will.
Der Text ist von Efi Latsoudi, einer Griechin, die auf Lesbos das offene Willkommenszentrum von Pikpa mehr oder weniger leitet. Pikpa ist der Hauptpartner des CPT-Projekt auf Lesbos während des letzten Sommers.
Wir wurden über eine Rettungsoperation am Strand von Kydonie informiert. Eine 38-jährige Frau wurde vermisst. In dieser Region gibt es sehr starke Winde. Die Küstenwache schickt keine Boote, sondern sucht das Gebiet nur mit einem Helikopter ab.
Gegen Mittag kommen 25 Afghanische Flüchtlinge nach Pikpa, die mit zwei Schlauchboote angekommen am frühen Morgen waren.
Die starken Winde und die Wellen können die Schmuggler nicht aufhalten, und auch nicht die Menschen, die versuchen vor dem Krieg zu fliehen.
Unter den Überlebenden des ersten Bootes ist ein 5-jähriges Mädchen mit ihrem Onkel – ihre Mutter ist die vermisste Frau. Das Kind kann in Pikpa ausruhen, obwohl das Lager wieder mal zu voll ist. Gestern kamen mehr als 150 Menschen an. Es gibt keine freien Betten mehr, aber die Familien, die sich um das kleine Mädchen kümmern, haben ihr eines ihrer eigenen Betten gegeben.
Wir informieren die Doctors of the World beim offiziellen Lager in Moria über den tragischen Vorfall und auch das internationale rote Kreuz. Der Vater des Kindes und seine Schwester sind schon in Belgien und wenn sie nach Moria gebracht wird, können sie miteinander telephonieren.
Leider haben die Behörden es den Doctors of the World verboten, im offenen Lager in Pikpa medzinische Dienste anzubieten. Sie dürfen nur in Moria, dass wie ein Gefängnis aussieht, arbeiten.
Das Mädchen hat ihre Mutter zweimal nach ihr rufen hören, und dann nicht mehr.
Wir können durchsetzen, dass das Mädchen als Opfer eines Schiffbruchs nicht nach Moria gebracht wird, sondern in Pikpa bleiben darf und hier ihre Papiere erhält.
Alle in Pikpa sind schockiert. Die Überlebenden beschreiben, wie das Boot eine halbe Stunde nachdem sie die türkische Küste verlassen hatten (kurz nach Mitternacht) aufgrund der hohen Wellen umkippte mit circa 13 Leuten an Bord. Der Onkel des Mädchens zusammen mit einem anderen Mann schaffte es, sie zu retten. Aber ihre Mutter war von den Wellen schon abgetrieben worden. Dann schafften es einige Männer, das Boot wieder zu drehen und die zwölf Verbliebenen schafften es wieder in das kleine Schlauchboot hinein.
Nach vielen Stunden hatten die starken Wellen sie zum Strand von Kydonies auf Lesbos getrieben. Dort wurden sie von den Küstenwache aufgegriffen und meldeten die vermisste Frau, was zu der anfangs beschriebenen Suchoperation führte.
In Pikpa haben wir solche Tragödien schon viel zu oft erlebt. Alle sind wir von unserer Trauer und Ohnmacht erschöpft.
Am späten Nachmittag aber erhalten wir unerwartete Neuigkeiten. In der Gegend von Xambelia wurde eine Frau aufgegriffen, die alleine und verwirrt herumlief. Sie wurde ins Krankenhaus gebracht, wo unser Übersetzer sie sofort aufsuchte. Die Frau war unter Schock. Sie war überzeugt, die einzige Überlebende zu sein, und das ihre Tochter und alle anderen ertrunken waren. Sie selbst hatte 18 Stunden lang gegen die Wellen gekämpft. Sie hatte nur eine mittelmäßige Rettungsweste, die sich mit der Zeit mit Wasser vollsaugte und begann, sie nach unten zu ziehen. Sie konnte nicht gut schwimmen und hatte Angst vor dem Meer.
Als sie schließlich von Wind und Wellen an die Küste von Lesbos getrieben wurde, fand sie eine orangene Rettungsweste und war überzeugt, dass sie ihrer Tochter gehört. Sie schrie vor Verzweiflung und stolperte mit letzter Kraft zum nächsten Haus.
Als unser Übersetzer ihr vorsichtig versuchte zu erklären, dass ihre Tochter noch am Leben sei und auf sie in Pikpa wartete, weigerte sie sich, ihm zu glauben. Erst nach einer langen Zeit konnte sie sich beruhigen und ihr Kind treffen. Der Moment ihres Wiedersehens ist unbeschreiblich.
Ein wahres Geschenk des Lebens.
Das Krankenhaus in Mytilene hat der Frau sehr geholfen. Sie behielten sie noch einen Tag im Krankenhaus um ihre körperliche und psychische Gesundheit zu überprüfen.
In Pikpa kann sie sich nun erholen und die Arbeit für die Familienzusammenführung mit ihrem Mann und ihrer ältesten Tochter in Belgien beginnt.
Wir haben ein echtes Wunder erlebt nach so vielen Toten.
Aber dennoch sind wir wütend. Das Leben von Flüchtlingen sollten nicht von Wundern abhängen. Eine Frau, die mit ihrem kleinen Kind vor dem Krieg flieht und deren Familie bereits in Belgien lebt, sollte niemals ihr Leben bei so einer gefährlichen Bootsfahrt riskieren müssen.
Das tödliche Grenzregime muss sich sofort ändern.
Unsere Küste muss eine Küste des Lebens und nicht des Todes sein.
Zwei Geschichten von Menschen, die ein anderes Ufer erreichen wollen und vom Sturm in Lebensgefahr gebracht werden und doch überleben.
Zweimal beschreiben die Menschen, dies als ein Wunder.
Sonst gibt es nicht so viele Ähnlichkeiten zwischen den Geschichten, es liegen ja auch knapp zweitausend Jahre dazwischen. Aber das ist gut, denn eine Unterhaltung zwischen zwei ganz gleichen Menschen ist ja auch langweilig.
Der biblische Text ist sehr viel kürzer als die Geschichte aus Lesbos. Hinter den knappen biblischen Sätzen verbergen sich oft die Gefühle und Gedanken der Hauptfiguren und wir müssen sie selbst füllen. Lesen wir doch die Geschichte zusammen.
Die Furcht der Jünger bekommt Gestalt, wenn ich sie mit den Geschichten der Flüchtlinge lese.
Wie die Flüchtlinge überqueren sie eine Grenze. Sie wird zwar nicht bewacht wie die europäische Außengrenze, aber sie kommen in ein anderes Land. Und wenn man an die Auseinandersetzungen mit den Pharisäern und Autoritäten denkt, könnte man auch behaupten, dass sie fliehen, um sich nicht einer Verfolgung auszusetzen.
Manche von ihnen sind Fischer und sie alle kommen aus der Gegend um den See Genezareth, aber das heißt nicht, dass alle von ihnen schon mal auf einem Boot waren, geschweige denn in einem Sturm. Vielleicht können sie nicht mal schwimmen?
Vielleicht hat einer schon Verwandte durch so einen Sturm verloren und wird nun daran erinnert. Viele Flüchtlinge haben schon Verwandte verloren, und wagen trotzdem diese Überfahrten, weil es keinen anderen Weg nach Europa gibt.
In dem Bericht hatte die Frau einen Ehemann und ein Kind in Belgien und konnte trotzdem nicht auf eine erfolgreiche Familienzusammenführung von außerhalb der Europäischen Union hoffen.
Man kann diese Anträge zwar stellen, aber sie konnte sich nicht darauf verlassen und riskierte lieber ihr eigenes und das Leben ihrer Tochter.
Was tun, wenn der Sturm aufkommt und das Boot sich mit Wasser füllt?
Warum schläft Jesus eigentlich?
Ist er so ruhig und tiefenentspannt wie ihn meine Kinderbibel gezeichnet hat, oder ist er einfach erschöpft von der Masse, die ihn auf der einen Seite des Sees bedrängt hat und immer noch eine Geschichte über dieses geheimnisvolle Reich Gottes hören wollte und von der Spannung, die sich jetzt schon aufbaut und von der er ahnt, wie sie sich in Jerusalem an ihm entladen wird?
Die Jünger wecken ihn schließlich auf und er rettet sie, indem er den Sturm und die Wellen bedroht. Und sie gehorchen! Die Autorität, die ihm gegeben ist, macht den Jüngern Angst „sie fürchteten sich mit großer Furcht“. Macht es uns noch Angst, oder haben wir uns schon so an die Geschichten gewöhnt? Und nehmen wir noch Ernst, dass wir der Leib Christi sind und größere Taten tun sollen?
Die Flüchtlinge hatten keinen Jesus im Boot, der mal eben den Sturm anblafft und ihn zum Schweigen bringt. Zusammen konnten sie das Boot wieder umdrehen und sich retten, aber ein Wundermann hat ihnen dabei nicht geholfen.
In unserer Geschichte schläft Jesus als Leib Christus, als die weltweite Kirche, immer noch.
Ich bete, dass wir langsam aufwachen und den Ruf hören, der uns von den Flüchtlingen entgegenkommt: „Kümmert es dich nicht, dass wir umkommen?“
Werden wir dann den Mut haben, das Grenzregime zu bedrohen und zur Umkehr zu rufen, damit die Küstenwache und FRONTEX zu Menschenfischern statt Grenzschützern werden kann?
Und doch ist auch das ein Wunder.
Was ist eigentlich ein Wunder?
Etwas ungewöhnliches, vollkommen gegen unsere Erwartungen gehendes, dass sogar die Naturgesetze bricht?
Das kann dazu gehören, ist aber nicht das eigentliche Wesen eines Wunders.
Im Markusevangelium tut Jesus viele Wunder, er treibt Dämonen aus, wie in der Geschichte nach unserem Text, heilt Kranke, Blinde und Lahme und vermehrt Brot. Oder er geht auf dem Wasser oder beruhigt den Sturm.
Geht es dabei um das Brechen von Naturgesetzen?
Nein, denn die Überzeugung, die Natur sei durch unveränderliche Naturgesetze geregelt setzt sich erst sehr viel später mit dem Aufkommen der modernen Physik durch.
Geht es vielleicht um das Spektakel, dass Menschen von Jesu Identität überzeugen soll? Dann hätte sich Jesus bei der Versuchung auch vom Tempel stürzen können, wie Satan, immer noch einer der besten PR-Manager, es ihm vorgeschlagen hat.
Nein, die Wunder sind ein Zeichen für das Reich Gottes, das Jesus verkündigt und dass in seiner Gegenwart schon da ist. In ihnen bricht sich Gottes Traum für diese Welt bahn und verändert unsere Wirklichkeit. Da können Niedergedrückte wieder aufrecht stehen, Menschen werden die Augen geöffnet und Tote stehen wieder auf.
Und in diesem Sinne war auch das Überleben der Frau ein Wunder, aus dem einfachen Grund, weil im Reich Gottes keine Flüchtlinge ertrinken.
Warum verbietet Jesus dann denen, die er heilt darüber zu reden? Sie machen es dann zwar meistens trotzdem, aber was will er bezwecken?
Jesus weiß, wohin sein Weg ihn führen wird. Er weiß, er wird am Kreuz enden.
Am Kreuz scheitert Jesus an den rebellischen Mächten dieser Welt, die weiter auf Sicherheit und Abgrenzung setzen, um sich am Leben zu erhalten und dafür Menschen opfern. Zum Beispiel durch todbringende Abriegelung der Grenzen.
Diese Mächte unterdrücken Menschen und wer sie darauf hinweist, dass das nicht Gottes Willen entspricht wird ignoriert und als Naivling lächerlich gemacht. Und wer in seinem Protest lauter wird, für die kann es schnell ungemütlich werden. Wie auch Jesus letztlich am Kreuz endete.
Das weiß er und fordert uns auf, unser Kreuz auf uns zu nehmen und ihm nachzufolgen. Unser Kreuz auf uns nehmen, heißt wie Jesus sich in Solidarität mit den Anderen, die in der Gemeinschaft nicht willkommen sind zu begeben.
So schön die Wunder sind, verstehen können wir sie nur mit dem Kreuz unserer Wirklichkeit. Nur dann werden sie zu Geschichten von Auferstehung aus den Toten, ohne die Kreuzesnachfolge werden sie zu Traumwelten.
Was heißt Kreuzesnachfolge für unsere Situation?
Es gäbe vieles zu sagen, ich will nur einen Aspekt herausgreifen. Wenn wir uns auf die Anderen, die kommen, einlassen, dann werden sich Dinge ändern und das wird Probleme hervorrufen. Probleme mit Menschen und Institutionen, denen unsere Gastfreundschaft nicht gefällt, weil sie nicht wollen, dass „die“ hier Heimat finden.
Aber auch Probleme in unserer Gemeinde, wenn Andere auf einmal verlangen, hier Raum einzunehmen und Sachen anders zu machen.
Vielleicht würde es Beziehungen, die aufgebaut wurden zerstören.
All das ist Teil des Wagnisses der Kreuzesnachfolge, aber nur wer sich darauf einlässt sieht und versteht die Wunder, heute noch geschehen.
Zum Abschluss will ich aus Epheser 5,14-20 lesen (der eigentlich vorgeschlagene Text):
Darum heißt es: „Wache auf, der du schläfst, und stehe auf von den Toten, so wird dich Christus erleuchten.“
So sehet nun zu, wie ihr vorsichtig wandelt, nicht als die Unweisen, sondern als die Weisen, und kaufet die Zeit aus; denn es ist böse Zeit. Darum werdet nicht unverständig, sondern verständig, was da sei des HERRN Wille. Und saufet euch nicht voll Wein, daraus ein unordentlich Wesen folgt, sondern werdet voll Geistes: redet untereinander in Psalmen und Lobgesängen und geistlichen Liedern, singet und spielet dem HERRN in eurem Herzen und saget Dank allezeit für alles Gott und dem Vater in dem Namen unsers HERRN Jesu Christi, und seid untereinander untertan in der Furcht Gottes. (Eph.5,14-20)
Lasst uns aufwachen, das Grenzregime anblaffen, und in unserer Gemeinde Menschen, die eine Heimat suchen Platz geben und ein Zeichen des Reiches Gottes sein. Wohlwissend, in welche Schwierigkeiten uns das bringen wird.
Amen.
Hallo Benni, jetzt hab ich nach längerer Zeit mal wieder Deinen Blog gelesen und bin wieder im Wortsinn begeistert, besonders von dieser Predigt. Danke!!! (bei den Predigten, die ich hier sonntags höre, habe ich fast immer die größte Mühe damit, meine Augen offen zu halten.)
Von der Aktion in der Hardtstraße habe ich leider erst nachträglich gelesen. So etwas wüsste ich gerne vorher; vielleicht könnte ich etwas beitragen, auch wenn ich wahrscheinlich nicht die ganze kalte Nacht durchgehalten hätte.
Gela