Vor einiger Zeit hatten wir hier auf der Farm eine Diskussion über Hausbesetzungen in Deutschland, die mich daran erinnert hat, dass ich schon seit ich auf dem Weinberg bin einen Text über von Punks besetzte Häuser, militärische Besatzungen und den kleinen Unterschied zwischen den beiden Taten, die mit dem selben Begriff bezeichnet werden, schreiben wollte.
Als ich hier ankam, gefiel mir sofort die Atmosphäre dieses Ortes: Die Natur, die bemalten Steine, die anderen Freiwilligen, die Vision der Familie Nasser. Aber eine Sache gefiel mir besonders: Dass alles so provisorisch und zusammengeschustert war. Komposttoiletten, Höhlen, ein Taubenstall aus einem alten VW-Bus. Dass quasi alles auf dem Hügel mit einem Abrissbefehl belegt war. Es kam mir vor, als lebte ich in einem (illegal) besetzten Haus, und die Siedlungen auf den benachbarten Hügeln – obwohl architektonisch offensichtlich fremd hier – sahen aus wie spießbürgerliche (und damit einhergehend legale) Einfamilienhäuser.
Dabei ist es doch genau umgekehrt! Die Siedlungen sind illegal, nach dem Völkerrecht und der Außenposten, der aussieht, wie eine amerikanische Farm sogar nach israelischem Recht. Der Besitzanspruch der Familie Nasser dagegen ist durch Urkunden aus dem osmanischen Reich, als der Großvater entgegen der Gewohnheit der meisten Palästinenser das Land registrieren ließ, belegt, sowie durch Dokumente der Briten, Jordanier und sogar der Israelis, die im Verlauf des letzten Jahrhunderts das Gebiet kontrollierten. Wenn es also nach bürgerlichem Recht und Gesetz zuginge, wären die Nassers die Gutbürgerlichen und die Siedler die Gesetzesbrecher.
Doch, ach, in der „einzigen Demokratie im Nahen Osten“ haben palästinensische Bauern unter militärischer Besatzung nicht dieselben Rechte wie israelische Siedler und so kommt es, dass die Nassers seit zwanzig Jahren vor Gericht um ihr Land kämpfen müssen und nur dank ihres guten Rechtsanwalt und internationaler Unterstützung mittlerweile in einem eher positiv zu bewertenden Status Quo stecken, ohne Gewissheit, dass sie das Land behalten dürfen und die Gebäude nicht abgerissen werden.
Kurz zusammengefasst: Die Nassers sind sowohl nach Gewohnheits- als auch nach kodifiziertem Recht Besitzer des Land, das ich Dahers Weinberg nenne. Die Siedlerbewegung hat die umliegenden Hügel durch den Staat Israel erhalten, der das Land den Palästinensern entwendete, einfach so, oder unter der Begründung, sie benützen es ja sowieso nicht. Dasselbe würde sie auch gerne mit Dahers Weinberg machen. Diese Praxis ist nach dem Völkerrecht illegal und widerspricht auch der moralischen Intuition vieler Menschen, zum Beispiel meiner.
Wie steht es also mit Hausbesetzungen, oder dem neuen Phänomen der „Occupy“-Bewegung?
Bei Hausbesetzungen werden typischer Weise seit Jahren unbenutzte Häuser oder Büroräume von einer Gruppe Menschen „besetzt“, wieder in Stand gesetzt und im Folgenden von ihnen, oder anderen bewohnt, und/oder für Kunst-, oder Viertelprojekte benutzt. Beginnen diese Projekte eigentlich immer in der Illegalität und sind mit polizeilicher Räumung bedroht, so wird, wenn ein Projekt sich lange genug halten kann, irgendwann meist ein Kompromiss zwischen der Autorität den rechtlichen Besitzern und den Besetzern gefunden, der Rechten und Pflichten der Parteien klärt. Hausbesetzungen versuchen, vor allem auf die akute Wohnungsnot durch Spekulation im Immobilienmarkt aufmerksam zu machen. In dieser Hinsicht sind es symbolische Aktionen, die aber auch eine reale Konsequenz haben. Aus diesem Grund hatte die Niederlande für einige Zeit Hausbesetzungen quasi legalisiert, um einen Ausgleich zur Spekulation zu haben.Außerdem geht es vielen Häuserbesetzern auch um die Schaffung von „befreiten Zonen“, Orten, die frei von der Diktatur des Marktes sind. Autonome Jugendzentren, die ohne staatliche Kontrolle funktionieren, haben ähnliche Ziele.
Hier setzt auch die Occupy-Bewegung an, und besetzt öffentliche Plätze, um einen Raum für Diskussion und Meinungsbildung zu schaffen und einen Ort, an dem Widerspruch zur geltenden Wahrheit der Märkte geäußert und gebildet werden kann. Legendär war hierbei der Zukotti-Park in New York, die erste Besatzung von #OccupyWallStreet. Es sollte auch erwähnt werden, das die Demonstranten den arabischen Frühling und insbesondere den Tahrirplatz in Kairo als ihr Vorbild wählten.
Wenn ich diese Beschreibungen vergleiche, fallen mir (oberflächliche) Gemeinsamkeiten auf:
- der Besitzanspruch einer Partei wird durch eine andere verneint, die den Besitz selbst zu nutzen beginnt
- Begründung ist unter Anderem, dass die enteignete Partei den Besitz nicht „nutzt“. In der Westbank ist hiermit die Nichtbearbeitung des Landes gemeint, unter Berufung auf ein osmanisches Gesetz. Bei Hausbesetzungen wird der Besitzer beschuldigt, den Wohnraum für Spekulation zu nutzen, auf Kosten der Allgemeinheit, die deshalb höhere Mieten zahlen muss, oder auf der Straße lebt.
- die Enteignung wird ideologisch rechtfertigt (Zionismus, Gottes Versprechen oder Enteignung der besitzenden Klasse)
Sind also Hausbesetzungen, #OccupyWallStreet und die israelischen Siedlungen in der Westbank, Ostjerusalem und der Golanhöhe dasselbe, und ist es folglich nur ideologische Verirrung die eine Praxis zu unterstützen und die andere zu verurteilen?
Nein. Es gibt mehrere Unterschiede, die der Grund für meine instinktive unterschiedliche Beurteilung sind.
Zum einen wäre da, dass Hausbesetzungen ziviler Ungehorsam sind, die Beteiligten also die vom Gesetz verhängte Strafe für ihr Handeln annehmen. (Siedler werden von Israel nicht als Gesetzesbrecher gesehen und selbst für die Errichtung einer nicht genehmigten Siedlung – Außenposten genannt – wird niemand bestraft, es ist schon selten, dass diese selbst von Israel aus illegalen Siedlungen vom Militär zerstört werden). Des Weiteren wird meines Wissens jedes Gebäude, das von Hausbesetzern in Betracht gezogen wird, gründlichst untersucht, alleine deswegen, weil man zeigen will, warum die Besetzung legitim ist. Siedler hingegen fälschen regelmäßig Besitzurkunden, und benutzen Drohungen und Gewalt, um die palästinensischen Besitzer des Landes zu vertreiben.
Im Grunde lassen sich alle diese Unterschiede auf einen Kern zurückführen: Die Machtverhältnisse sind grundverschieden.
Auf der einen Seite die Siedlerbewegung, die von der Besatzungsmacht Israel finanziell und politisch unterstützt und militärisch geschützt wird. Militär und Siedler spielen bei der Enteignung von Palästinensern Hand in Hand, Siedler werden für ihre Terrorakte in der palästinensischen Gesellschaft nach israelischem Zivilrecht beurteilt und selten belangt, während Palästinenser nach Militärrecht verurteilt werden, und oft schon für Kleinigkeiten oder unüberprüfte Anschuldigungen Haftstrafen absitzen müssen. Die Ressourcenverteilung bevorzugt die Siedlungen über jedes Maß hinaus und ihre Infrastruktur wird permanent ausgebaut, während Palästinenser seit 1967 keine Baugenehmigungen in Area C erhalten haben.
Auf der anderen Seite haben wir die Hausbesetzer und #Okkupanten, die massiver Polizeigewalt ausgesetzt sind, von den Medien verzerrt dargestellt werden und ihre eigene Lobby sind. Sie bedienen sich größtenteils gewaltfreier Mittel und werden über Gebühr vom Gesetz bestraft.
Des Weiteren ist auch die Situation in der die Taten stattfinden, eine andere. Während die Siedlerbewegung eine Art westlicher Kolonisierung ist, in einem Gebiet schon seit Jahrhunderten kolonisiert wird und Zeuge der Kreuzzüge war, sind Hausbesetzungen in Europa und USA Teil des Widerstands gegen den Kapitalismus, der Profit über Menschen setzt und leere Häuser und Wohnungslose produziert (und auch die Kolonisierung Palästinas motiviert).
Dennoch denke ich, dass die oberflächlichen Parallelen zwischen den Siedlerbewegung und Hausbesetzern uns ermahnen sollten, unsere Motivation, unser Handeln und die Rechtfertigung für unser Handeln kritisch zu überprüfen, ob sie nicht doch „zionistische“ Züge trägt.
Gerade das Argument, das Eigentum werde „nicht genutzt“ ist sehr kritisch zu betrachten. Warum wird es nicht benutzt? Ist es wirklich Spekulation, oder ähnlich profitgetriebene Ideen, die den Besitzer veranlassen, sein Haus nicht zu vermieten, oder kommt er beispielsweise wegen verschiedener bürokratischer Hindernisse nicht dazu, es zu nutzen? Wenn dem so wäre, ähnelt er doch eher dem palästinensischen Bauern, dem das Militär verbietet, auf seinem Land zu arbeiten (z.B. zu seinem eigenen Schutz vor Siedlern), das dann nach drei Jahren enteignet wird, da er es ja nicht benutzt.
Diese Gefahr sehe ich in der Tat bei Hausbesetzungen, gerade wenn unkritische Ideologien die Hauptmotivation sind. Von meinem Blickwinkel aus, werden solche Fragen zuvor aber meist gründlichst recherchiert, allein schon um der von vorn herein kritischen Reaktion von Justiz und Öffentlichkeit eine überzeugende Erklärung zu bieten. Eine weitere Frage bleibt, ob Begriffe wie „Besatzung“ nicht schon durch die Kolonisierung eine zu negative Prägung haben. In den USA haben auf Proteste von Ureinwohnern, die sich an #Occupy (Besetzt) beteiligen, einige Besatzungen in #UnOccupy (Beendet die Besatzung/ Entsetzt) oder sogar #Decolonialize (Entkolonisiert) umbenannt. Ich bin mir sicher, dass in der Westbank oder Gaza ein #OccupyPalestine auch nicht viel Zulauf bekommen würde.
Mir gefällt am besten das kreative Wort „Instandbesetzen“, einmal als Wortspiel und dann weil es andeutet, dass es bei einer Hausbesetzung um ein konstruktives Handeln geht. Es wäre wohl auch fruchtbar in Richtung von Mk 5, 9 nachzudenken, wo ein Mensch „besetzt“ ist von einem Dämon, dessen Name „Legion ist, denn wir sind viele“. Im Hintergrund steht deutlich die in der Gegend stationierte römische Legion, deren Wappen ein Schweinekopf zierte. Die Geschichte macht auch deutlich, dass es bei Besetzungen um Ideologien geht. – Ich hoffe, wir stehen demnächst oberhalb des galiläischen Meeres an der Stelle, wo sich die Befreiung dieses Menschen – der womöglich für das damalige Volk Israel unter römischer Besetzung steht – zugetragen haben soll.