„Zieht an die ganze Waffenrüstung Gottes“

Die Logik gewaltfreien Widerstands verstehen und einüben

Dieser Text erschien zunächst beim Bienenberg Magazin, eine gekürzte Version auf dem Blog des Neufeld Verlags. Hier habe ich es für einen Workshop beim Freakstock nochmal überarbeitet und eine biblische-theologische Perspektive hinzugefügt. Der Text kann (ohne Bilder) als pdf hier heruntergeladen werden.

Unbewaffnete Gruppen oder gar Einzelne blockieren Panzer. Tägliche Protestdemos in der ukrainischen Stadt Slavutych erkämpfen die Freilassung des Bürgermeisters und den Rückzug der russischen Armee. Weissrussische Eisenbahner verhindern Waffen- und Truppennachschub durch Sabotage an Gleisanlagen und Zügen.
In den Debatten um Putins Krieg finden diese kreativen Formen gewaltfreier Verteidigung leider kaum Beachtung. Dabei erforschen Konfliktforscher wie Gene Sharp oder Erica Chenoweth schon seit Jahrzehnten die Logik zivilen Widerstands und zeigen, wie er trotz mangelnder Vorbereitung häufiger Erfolg hat als bewaffnete Aufstände.
Wie könnte ein vorbereiteter Widerstand aussehen, der Ressourcen nicht in militärische Aufrüstung, sondern in gewaltfreie Wehrfähigkeit setzt?

Den Gegner schwächen

Quelle: beautifultrouble

Zunächst gilt es, nicht nur auf einzelne Taktiken zu schauen, sondern die strategische Logik gewaltfreien Widerstands zu verstehen. Anders als vielfach behauptet, zielt diese Art zu kämpfen nicht darauf, das Mitgefühl von Diktatoren zu wecken oder Unterdrücker zur Umkehr zu bewegen. Ziel ist, die Macht des Gegners zu schwächen, sodass dieser keinen Schaden mehr anrichten kann.


Dies impliziert eine andere Sicht auf Macht: Macht ist ein Verhältnis, jeder Herrscher braucht das Einvernehmen mit den Beherrschten. Es muss über Belohnung oder Strafe, aber auch den ideologischen Überbau immer wieder sichergestellt werden. Entziehen die Beherrschten ihr Einvernehmen und verweigern offen oder verdeckt die Zusammenarbeit, wird die Fähigkeit des Herrschers, seinen Willen durchzusetzen, eingeschränkt. Ohne Gehorsam ist der Herrscher machtlos. Selbst die Schwächsten haben also einen Weg zu kämpfen, solange ihre Arbeitskraft, ihr Wissen oder auch nur ihre Passivität für das System erforderlich sind.

Zudem ist „der Gegner“ kein monolithischer Block, sondern besteht aus einer Vielzahl von Personen und Gruppen mit je eigenen Interessen und Werten sowie offenen oder latenten Konflikten untereinander. Gewaltfreier Widerstand analysiert diese Zusammenhänge in den Säulen der Macht. Wo ist das schwächste Glied? Welche internen Konflikte können verschärft werden? Man denke hier an die Geschäftsinteressen der wirtschaftlichen Eliten. Die Unbeliebtheit des Kriegs bei den Rekruten. Kriegswichtige Sektoren, die durch gezielte Sabotage oder die Nicht-Kooperation schon kleiner Gruppen stillgelegt werden können.

Stärken des gewaltfreien Widerstands

Gewaltfreier Widerstand einige wichtige Vorteile gegenüber konventionell militärischen Ansätzen:

  1. Teilhabe: Gewaltfreier Widerstand kann viel mehr Menschen beteiligen, als militärisches Handeln es kann; allein schon deshalb, weil er keine Waffen und weniger Ausbildung benötigt. Partizipation ist eine entscheidende Größe für Erfolg oder Misserfolg einer Bewegung.
  2. Innovation: Widerstand braucht viele und vielfältige Formen, um unvorhersehbar und unkontrollierbar zu bleiben und die Kosten einer Fortsetzung der Invasion weiter zu eskalieren, bis dem Herrscher nur eine Wahl bleibt: Rückzug oder den eigenen Sturz riskieren. Je mehr Menschen sich selbstmotiviert und freiwillig beteiligen, desto höher das Innovationspotential.
  3. Bewaffneter Kampf dagegen führt eher zu Hierarchien, zu Zentralisation von Macht und gleichbleibenden Taktiken. Langfristig riskieren bewaffnete Kämpfe eine Schreckensherrschaft durch eine andere zu ersetzen.
  4. „moralisches Jiu-Jitsu“: Gewaltfreies Handeln wirkt oft deeskalierend. Dennoch kann gewaltsame Repression nicht völlig verhindert werden. Sie kann aber strategisch genutzt werden, um Solidarisierung, Sanktionen durch dritte Parteien und gegebenenfalls sogar Rebellion in den Reihen des Gegners hervorzurufen. Höhere Partizipation erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die Kinder der Eliten oder Sicherheitskräfte selbst Teil des Widerstands werden, was sich wiederum gewalthemmend auswirkt, oder sogar zu Loyalitätswechseln führen kann.

Die Gewaltspirale durchbrechen

Ein konsequent gewaltfreier Zugang kann diese positive Dynamik noch steigern. Barbara Deming nannte dies die „zwei Hände der Gewaltfreiheit“. Eine Hand sagt Stopp: „Nein! Dieses Verhalten muss aufhören.“ Die andere Hand lädt ein: „Du hast einen Platz in der Welt, für die wir streiten.“ Die Spannung zwischen beiden Händen setzt Menschen unter Druck und zeigt ihnen zugleich einen Ausweg, beispielsweise zu desertieren.
Je mehr Menschen diesen Schritt wagen, desto leichter wird es für die nächsten. Jeder tote Soldat legitimiert als „Held“ die Fortsetzung der Gewalt. Umgekehrt ist jeder Deserteur ein lebendiger Beweis, dass es Alternativen gibt. Und er ermutigt frustrierte Kameraden, es ihm gleichzutun.
Historisch gesehen hat Widerstand innerhalb des Militärs immer wieder eine entscheidende Rolle zur Beendigung von Kriegen gespielt, besonders im 1. Weltkrieg, aber auch im US-Vietnamkrieg. Offizielle Sicherheitsgarantien für russische Deserteur:innen seitens der EU oder der Schweiz wären ein effektiver und gewaltfreier Weg, die Kriegsfähigkeit der russischen Armee zu schwächen. Gerade angesichts einsetzender gegenseitiger Verbitterung und Gräuel¬taten muss diese Intervention von neutralen dritten Parteien kommen.
George Lakey, Veteran gewaltfreien Widerstands, nennt diesen Ansatz „das Schwert, das heilt“. Gewaltfreier Widerstand ist eine Art zu kämpfen aber seine Mittel und Zweck sind von der Vision eines gerechten Friedens und der Heilung bestimmt. Gewaltfreier Widerstand geschieht im Horizont einer gemeinsamen Zukunft für alle und hält diesen offen – inmitten der Gewaltspirale.

Was wir tun können

Der russische Angriff auf die Ukraine ist ein Schock. Auch die Friedenskirchen müssen sich ernsthaft fragen: Warum haben wir neben Nothilfe, Diplomatie und Versöhnungsarbeit so wenig in gewaltfreien Widerstand investiert?
Statt endlos zu diskutieren, was die Ukrainer:innen tun sollten, sollten wir tun, was wir können, um dem Krieg die Energie zu entziehen und Kräfte für einen gerechten Frieden zu stärken. Drei Ideen:

  1. Netzwerke gewaltfreien Handelns und strategischer Friedensarbeit stärken:
    Das ökumenische Netzwerk Church & Peace verbindet Gruppen und Gemeinden in Europa, die Versöhnung & Gewaltfreiheit leben wollen. Community Peacemaker Teams in Kolumbien, Nordirak und Palästina schützt Menschen durch Begleitung, Friedensbildung und Dokumentation von Menschenrechtsverlet-zungen. Nonviolent Peaceforce erkundet ähnliches in der Ukraine.
  2. Deserteur:innen unterstützen:
    In den US-Kriegen in Irak und Afghanistan halfen Mennoniten vielen in Deutschland stationierten US-Soldaten, den Kriegsdienst zu verweigern. Connection e.V. hat eine Hotline für russische und ukrainische Deserteur:innen eingerichtet. Als transnationales Netzwerk haben Kirchen hier besondere Chancen und Verantwortung.
  3. Die eigene friedliche Wehrhaftigkeit erhöhen:
    Es gibt viele konkrete Orte und Bewegungen, wo der atomaren Vernichtungsdrohung oder dem fossilen „Weiter so“ entgegengetreten wird. Hier können wir uns informieren, ausbilden, einüben und konkrete Erfahrungen in gewaltfreiem Widerstand sammeln.
    Ein Solches Engagement wäre beides: konfliktpräventiv und Vorbereitung auf kommende Konflikte.
    Der Bund für Soziale Verteidigung und Sicherheit Neu Denken lancieren derzeit eine neue Initiative, um soziale Verteidigung weiterzuentwickeln und in die breitere Öffentlichkeit zu tragen.

Gewaltfreiheit schafft Gott einen Raum

Die hier skizzierte Strategie einer sozialen Verteidigung von unten folgt der prophetischen Vision einer Friedensordnung, in der Waffen zu Werkzeugen umgeschmiedet, Konflikte gewaltfrei bearbeitet werden und gerechter Friede (Schalom) statt Krieg gelernt wird. Wir müssen nicht warten, sondern können „schon heute“ auf den Wegen unseres Gottes gehen. (Micha 4,1-5)
Geschichten kreativer Gewaltfreiheit ziehen sich durch die ganze Bibel. Es sind keine naiven Träume, sondern spiegeln Erfahrungen, wie Menschen ohne Waffen im Kontext von Kriegen und Besatzung widerstehen können, dabei von Gottes Macht gestärkt werden und Unvorstellbares erleben.
Eine unvollständige Liste:

  • Der Auszug aus Ägypten beginnt mit der Weigerung der Hebammen Shiphra & Puah den Befehlen Pharaos zu gehorchen. (Exodus 2).
  • Elisha leitet die soziale Verteidigung einer Stadt. (2. Könige 6)
  • Jesus lehrt seine Jünger:innen kreativ mit Unter-drückung umzugehen und ihre Würde zurückzugewinnen. (Matt 5-7)
  • In seinen Gleichnissen und Austreibungen griff er die ideologischen Säulen des Systems, um das „entzweite Haus“ (Markus 3) zum Einsturz zu bringen. In der Nachfolgegemeinschaft baut er eine parallele Struktur auf, in der Solidarität und Gewaltfreiheit erlernt werden können.
  • Paulus ermutigt die Gemeinden zu praktischer Feindesliebe im Vertrauen auf Gottes Gerechtigkeit (Römer 12)
  • Er erinnert sie, dass sie nicht gegen Menschen kämpfen, sondern gegen die Mächte, die Jesus in Tod und Auferstehung gewaltfrei entlarvt und überwunden hat. Für diesen Kampf braucht es die „Waffenrüstung“ einer lebendigen Spiritualität, um bei der Wahrheit zu bleiben und im Angesicht der Gewalt nicht zu verbittern (Epheser 6).

Quellen und weitere Informationen:

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