(Als ich den letzten Artikel schrieb, war ich sehr wütend und aufgewühlt von den Ereignissen in Palästina, die ich in dem Artikel beschrieb. Gleichzeitig war ich auch viel stärker als jetzt noch in der ersten Phase der Wiederanpassung und ein Teil der Frustration, die sich meinem Schreiben Weg brach, war darin begründet, dass ich mich hier fremd und ohnmächtig fühle. Noch ohnmächtiger in Palästina, weil ich nicht weiß, wie Solidarität hier aussehen kann.
Jedenfalls habe ich seitdem noch einmal über die Ereignisse nachgedacht und bin auf eine zweite Betrachtungsweise gestoßen, die ich für ebenfalls wichtig halte.)
Als ich über den Mob jüdisch-israelischer Jugendlicher nachdachte, der am 17.8. zu Beginn des Shabbat einen palästinensischen Jugendlichen auf einem öffentlichen Platz in Westjerusalem zu Tode prügelten, und dann flüchteten, erfüllte mich Wut und Verzweiflung. Mit dem Zionsplatz verband ich schöne Erinnerungen von einem Abend voll langer Gespräche und der unerwarteten Freundlichkeit fremder Menschen – aber jetzt war diese Erinnerung von den Berichten über abscheuliche Gewalt überlagert worden.
Ich schrieb über meine Gefühle und Gedanken und das half mir diese Gefühle loszulassen. Aber das Ereignis ließ mich nicht los, ich begann nur über andere Aspekte des ganzen nachzudenken.
Über die Leute, die herumstanden und nichts taten. Angsthasen, wie sie in uns allen sitzen und, die man überall findet, auch in Münchner U-Bahnen. Die Wut mischte sich hier mit Scham, als ich an all die Situationen denken musste, in denen ich selbst nichts tat, im Angesicht von Gewalt, von Unterdrückung. Bei diesem Gedanken verweilte ich eine Weile, um mir klar zu machen, dass ich nicht besser bin, als die Angsthasen, langsam fing ich an zu zweifeln, ob ich besser war als die Täter.
Hätte ich, wäre ich in einem solchen Umfeld aufgewachsen, nicht vielleicht auch einen Hass auf Araber entwickelt, und wäre unter Gruppendruck zu Gewalttaten bereit gewesen?
Und doch gibt es in diesem Fall jemand, die unter ähnlichen Umständen stammt und doch ganz anders handelte: Bayta Houri-Yafin, eine israelische Jüdin, die Augenzeugin der Gewalt war, und als die Schläger flohen mutig in den Kreis ihrer Unterstützer trat und den arabischen Jugendlichen wiederbelebte. Er hatte schon keinen Puls mehr gehabt. (Deswegen schrieb ich oben, er sei zu Tode geprügelt worden. Er war tot, und wurde zurückgerissen) Während sie dies tat, kommentierten die Umstehenden, „er verdient es zu Sterben, er ist ja nur ein Araber“.
Manche haben gesagt, diese Frau hat unglaublichen Mut bewiesen, weil sie sich für diesen Menschen, der ihr Feind war, in Gefahr begab. In der Tat, sie hat das gezeigt, das wir in Deutschland „Zivilcourage“ nennen. Dennoch hat mich diese Aussage gestört.
Ist der junge Mann nicht friedlich die Jaffa Street entlang gelaufen? Was also machte ihn zum Feind? War es nicht letztlich nicht sein Verhalten, sondern nur seine Identität, die ihn zum „Feind“ machte?
Stellen wir uns vor, ein Mob jüdischer Israelis hätte auf einem belebten Platz einen jüdischen Israeli verprügelt, der friedlich die Straße entlang lief. Oder irgendein Mitglied einer Gruppe wird unter Zeugen von einer Menge an Menschen seiner Gruppe verprügelt. Würden wir nicht viel mehr Widerstand erwarten?
Man mag einwenden, dass auch in Deutschland solche Schlägereien passieren, und kaum Menschen eingreifen, und das stimmt. Ich würde nur behaupten, dass wir dennoch erwarten würden, jemand greife ein.
Hier aber sind die Feindbilder so stark, dass die Täter nicht nur keinen Widerstand erwartet, sie sind sogar angewidert von dem Gedanken, dass jemand aus ihrer Gruppe dem Feind helfen will.
Das Couragierte an Frau Houri-Yafins Reaktion ist nicht nur, dass sie ihrem Feind geholfen hat, sondern, dass sie sich weigerte, ihn als Feind zu sehen. Sie erwiderte ihm jenes anständige Verhalten, dass von allen innerhalb einer Gesellschaft zueinander erwartet wird. Damit widersetzte sie sich zuallererst dem entmenschlichten Bild, das ihre Gesellschaft von Palästinensern gezeichnet hat. Und dann handelte sie einfach anständig, wie wir es von allen erwarten.
Diese „gewöhnliche Anständigkeit“ beschrieb Emil Fackenheim, ein jüdischer Theologe, der sich fragte, wie die Welt nach dem Holocaust geheilt werden kann an Deutschen, die sich während des Holocaust ihren jüdischen Nachbarn anständig gegenüber verhielten und damit selbst Verfolgung riskierten. Mark Ellis, ein anderer jüdischer Theologe, der kritisch über die neue jüdische Identität seit der Begründung des Staates Israel nachdenkt, wendet dieses Konzept auf die Beziehung zwischen Israelis und Palästinensern an.
… Aber für Fackenheim kam das wichtigere Zeugnis von jenen Christen, die ohne einen noblen Grund das zeigten, was unter anderen Umständen als gewöhnlicher Anstand gälte: „In der Welt des Holocausts, machte der Anstand eines Unbeschnittenen, wenn er einem Juden entgegengebracht wurde, ihn zu einem Ausgestoßenem – so wie es die Juden selbst waren, und wenn er dafür sein Leben riskierte, oder gab, gab es nichts auf der Welt, das ihn aufrechthielt, außer sein gewöhnlicher Anstand selbst.“
… Man könnte die Behauptung des Gewöhnlichen ein Wunder nennen, also ein „ja“ zum Leben, das systematisch zerstört wird. …
Fackenheim überträgt diese Analyse nicht auf die Palästinenser und würde … dies sicherlich ablehnen. Man fragt sich, ob nicht … ein weiterer Bruch [wie der Bruch des Holocausts] zwischen Juden und Palästinensern vorgefallen ist, ein Bruch der auch Tikkun braucht (Tikkun – hebräisch für Heilung). … Könnte es nicht sein, dass unsere gegenwärtige Welt auch diesen gewöhnlichen Anstand braucht, damit der Bruch verheilen kann …?
Es könnte sein, dass die Juden, die Palästinenser umarmen, einfach das Tikkun von Juden und Christen aus dem Holocaust weiterführen und dadurch eine Zuunft für beide Völker möglich machen. Werden Palästinenser dereinst von den gerechten Juden schreiben, wie Fackenheim von den gerechten Unbeschnittenen schreibt?
Wenn es dereinst Frieden im Heiligen Land gibt, dann wird es wegen dem couragierten Handeln von Menschen wie Bayta Houri-Yafin sein, die einen ganz gewöhnlichen Anstand zeigen, denen die angeblich ihre Feinde sind.
Aber nicht nur wegen ihrem Handeln, sondern auch wegen denen, die davon erzählen, und all denen, die ihre Herzen verändern lassen und „hingehen und dasselbe tun“ (Lukas 10,37), wie Jesus schon den gewöhnlichen Anstand der Nächstenliebe weiter empfahl, der auch damals nicht weit verbreitet war.