Ährenraufen nach Ladenschluss

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Als Gott Israel aus der Sklaverei in Ägypten herausführt, murrt das Volk und will zurückkehren zu den Fleischtöpfen Ägyptens.

Wenn der Magen knurrt, wird die Sehnsucht nach Freiheit vom Hunger überwältigt und selbst die frische Erinnerung an die Unterdrückung verblasst gegenüber der Fata Morgana der Fleischtöpfe. Doch Gott versorgt sein Volk, nicht durch die Fleischtöpfe vorindustrieller Massentierhaltung, sondern Tag für Tag durch seine Schöpfung. Jeden Abend sendet er ihnen einen Schwarm Wachteln und am Morgen Manna, eine mythische Speise, die stets nur genau einen Tag genießbar ist.
Täglich neu sollen die befreiten Sklaven sich auf ihren Gott verlassen und lernen, dass er sie besser versorgt als das „Sklavenhaus Ägypten“.

In der Bibel finden wir viele Geschichten, die von Nahrungsmangel und der wundersamen Versorgung durch Gott handeln: Elia wird in der Wüste von Raben versorgt, sein Schüler Elischa versorgt eine arme Witwe durch ein wenig Öl und Mehl, die jeden Tag neu da sind. Jesus speist Tausende mit der kleinen Gabe eines Jungen.

Dazu gehören auch die Geschichten, die von der Versuchung handeln, sich für die Versorgung auf Weltreiche zu verlassen, die sich selbst vergötzen. Daniel und seine Freunde ernähren sich am babylonischen Hof vegetarisch, um nichts zu essen, das den imperialen Göttern geweiht ist. Jesus schlägt die Möglichkeit aus, Steine in Brot zu verwandeln und damit zu einem Imperator nach römischem Vorbild zu werden, der sich bei den Massen mit „Brot und Spielen“ beliebt macht. Stattdessen ermutigt er die Nachfolgegemeinschaft, von den Vögeln zu lernen, die nicht sähen und nicht pflügen und doch vom Schöpfergott ernährt werden.

Diese Geschichten genauer zu betrachten lohnt sich, wir können aber schon jetzt an ihnen ablesen: An unserem Essen entscheidet sich, auf welchen Gott wir vertrauen, oder anders gesagt: an was wir glauben. Vertrauen wir auf die Götzen der Weltreiche, ob sie nun Ägypten, Babylon oder Rom heißen oder Wall Street und DAX, die uns Sicherheit und Fleischtöpfe versprechen, in Wirklichkeit aber Menschen und Schöpfung vergiften und töten, oderaber auf den Schöpfergott, der uns täglich neu versorgt und genug für alle bereitstellt?

Die immer neue Entscheidung für das Vertrauen auf Gott kommt sowohl in der Bitte des Vaterunsers „Unser tägliches Brot gib uns heute“ wie auch im Teilen des Brots beim Abendmahl zum Ausdruck, die beide die Mitte des Gottesdienstes bilden.

 Nun hat sich seit den biblischen Zeiten einiges geändert, Traktoren haben in vielen Teilen der Welt Pflug und Ochsen ersetzt und in Europa streut kaum einer mehr Samen kreuz und quer über sein Feld. Dünger und gezüchtetes Saatgut bringen unglaubliche Erträge und haben dazu beigetragen, den Hunger durch Unterproduktion zu beenden. Doch an seine Stelle ist der Hunger trotz Überproduktion getreten. Die Welternährungsorganisation der Vereinten Nationen gab 2013 wieder einmal bekannt, dass allein die weggeworfenen Lebensmittel der westlichen Welt ausreichen, um alle Hungernden zu speisen.

Durch die Zwänge der Globalisierung produzieren viele Länder des globalen Südens vor allem lukrative Produkte wie Kaffee, Bananen oder Soja (zur Viehhaltung) in Monokulturen, die mit den dafür notwendigen Pestiziden Land und Leute vergiften. Die Gewinne aus diesen Exporten kommen nur wenigen zu Gute und, da kaum eigentliche Lebensmittel produziert werden, sind die Menschen auf Lebensmittelimporte angewiesen, auf die auf dem Weltmarkt spekuliert wird, was die Preise in den letzten Jahren vervielfacht hat.
Auch in Deutschland gibt es Hunger, nach Angaben des Verbands deutscher Kinder- und Jugendärzte leiden eine halbe Million Kinder regelmäßig Hunger und erhalten nicht alle Nährstoffe, die sie benötigen.

Wie kann das sein, wo es im Supermarkt doch soviel Essen gibt?
Hier zeigt sich, dass der Kapitalismus im Überfluss künstlich Mangel erzeugen muss, um sich am Leben zu erhalten. Der Supermarkt führt Lebensmittel aus aller Welt mit dem Versprechen, dass es bei immer längeren Öffnungszeiten dennoch immer alles geben muss. In makellosem Zustand selbstredend.
Um dieses große Angebot mit den von der Wirklichkeit abgekoppelten ästhetischen Erwartungen der Kunden vereinbaren zu können, wird in jedem Schritt der Lieferkette vom Bauern über den Großhändler bis zum Laden stets aussortiert. Der Apfel mit den Druckstellen, die krumme Gurke, die Palette Orangen mit einer schimmligen Frucht.
Zu Hause geht dieses Verhalten weiter. Mindesthaltbarkeitsdaten, die keinerlei Bezug zum echten Verfallsdatum haben, bringen Menschen dazu, den gekauften Joghurt wegzuschmeißen und gleich zwei neue zu kaufen.

Das Wegwerfverhalten der Kunden bringt Lebensmittelherstellern und Supermärkten also Gewinne, während die Mehrkosten für die weggeworfenen Lebensmittel einfach auf den Preis eingerechnet werden. Je nach Lebensmittel beträgt dieser Anteil 30-50%. Jede weggeworfene Banane bleibt natürlich auch Teil der Nachfrage und hat schon zur Zerstörung der Erde beigetragen. Das Wegwerfverhalten steht nicht nur in der Verantwortung der Konsumenten, sondern ist erstens durch Werbung erlernt, und zweitens ist Mangel für den Kapitalismus überlebensnotwendig. Würde man all die übrig gebliebenen Lebensmittel verschenken, so würde ja niemand mehr einkaufen.
Es will scheinen, dass die Ethik des Kapitalismus der biblischen diametral entgegensteht. Wo das Gesetz des Mose Mundraub ausdrücklich erlaubt (Deut 23,25f) und die Nachlese verbietet, damit sozial ausgegrenzte Gruppen sich versorgen können (Deut 24,19ff), ist es in Deutschland illegal, Lebensmittel aus dem Müll zu retten. Im Neuen Testament streiten sich die Pharisäer mit Jesus darüber, an welchen Tagen man Ähren aus dem Feld abreißen darf – die Frage, ob es sich um Diebstahl handelt, war dabei undenkbar.

Erst im Kapitalismus sind Besitzverhältnisse so eindeutig heiliger geworden als Menschen.

Bei allem, was sich verändert hat, ist einiges gleich geblieben. Auch heute müssen alle Menschen essen. Und weiterhin entscheidet sich an unserem Essen, welchem Gott wir dienen. Wie könnte in dieser vermarkteten Welt ein Konsumverhalten aussehen, das im Sinne der biblischen Tradition Gemeinschaft stärkt, die Schöpfung bewahrt und sich täglich neu auf den Schöpfergott verlässt?
Die Unterstützung von fair und nachhaltig hergestellten Produkten ist in diesem Kontext sicherlich nützlich, noch wichtiger ist die Vermeidung langer Transportwege, eine ortsnahe Herkunft der Lebensmittel und eine den Jahreszeiten entsprechende Ernährung. Diese Ansätze beginnen bei der Wurzel des Problems und versuchen Lösungen zu schaffen. Aber sie haben einen großen Nachteil: Sie sind teuer und nicht jede/r kann es sich leisten, sein Gewissen rein zu kaufen, was sowieso nicht das Ziel sein kann.
Ich fange daher beim Ende der Produktionskette an, und biete keine Lösung, sondern versuche es mit einer prophetischen Praxis: Mülltauchen, Essen retten, Containern oder Dumpstern.

Nach Ladenschluss begeben wir uns auf Fahrrädern mit Seitentaschen und Taschenlampen zum Supermarkt und streben den Hintereingang an. Dort finden wir das, was kurz zuvor noch auf dem Tresen lag: Äpfel, Orangen, Karotten (in Bioqualität), Blumen, die in ein paar Tagen anfangen zu welken und Joghurt, dessen Mindesthaltbarkeitsdatum zwischen vorgestern und übermorgen liegt. Wir nehmen uns soviel wir brauchen und hinterlassen den Hof sauberer als zuvor. Zuhause wird das Obst gewaschen und verteilt, vielleicht kochen wir spontan etwas, oder verabreden uns für den nächsten Tag zum gemeinsamen Essen.

Was ist Mülltauchen mehr als ein bisschen Abenteuer und eine Möglichkeit, Geld zu sparen? Eine Lösung für die Probleme der Nahrungsmittelproduktion und -verteilung sicher nicht.
Aber es führt uns immer wieder das schiere Ausmaß an Verschwendung und die Künstlichkeit des Mangels vor Augen. Es senkt einerseits die Nachfrage, da ich alles, was ich ertaucht habe, nicht mehr kaufen muss und gibt mir gleichzeitig die Möglichkeit, mit dem gesparten Geld in faire, nachhaltige und regionale Produkte zu investieren, die ich mir sonst nicht leisten könnte.

Anders als im Ausüben einer herablassenden Wohltätigkeit, armen Menschen Essen zu geben, das ich selbst nicht essen möchte, essen MülltaucherInnen selbst das Ertauchte und solidarisieren sich mit denen, die keine anderen Möglichkeiten haben. Die schiere Masse an weggeworfenem Essen, das man retten könnte, zwingt zum Teilen, da es in Analogie zum biblischen Manna bald aufgebraucht werden muss. Immer neue, unvorhersehbare Kombinationen an Fundgemüse fördern kreative Rezepte und Gemeinschaft mit allen, die sich einladen lassen. In manchen Städten werden in „Volxküchen“ leckere vegane Mahlzeiten aus gerettetem Essen an öffentlichen Plätzen an alle verteilt, die kommen, egal ob reich, arm, nüchtern oder betrunken. Diese Aktionen sind ein prophetisches Zeugnis gegen die Wirtschaft des Todes und für eine andere Welt, die hereinbricht, wo wir teilen und uns darauf verlassen, dass der Schöpfergott uns versorgen wird.

Hier wird für mich auch der geistliche Aspekt des Mülltauchens deutlich:

Die Auseinandersetzung mit dem weggeschmissenen Essen führt mich gleichzeitig in den Dank und die Klage. Dank für das Essen, das ich finde, Klage darüber, dass es ungerecht produziert wurde und nun Menschen vorenthalten wird, die es mehr bräuchten als ich.
Die biblischen Geschichten überlagen sich: Im Müll der Konsumwüste finde ich täglich mehr als genug Manna. Gleichzeitig versuche ich, nicht vor dem babylonischen Supermarkt niederzufallen.

Dieser Artikel von mir wurde in der Ausgabe 2/14 mennonitischen Zeitschrift „Die Brücke“ veröffentlicht. Da ich nicht zum Schreiben komme, poste ich ihn hier, um den Blog zu beleben.

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