„Gehet hin und lernt Solidarität“

Predigt, Lk 10,1-9, Weiherhof 17.11.2013

Gehet hin und lernet“ ist das Motto von „Christliche Dienste“, der Organisation, die mich zu „Zelt der Völker“ einem christlich-palästinensischen Bauernhof zwischen Bethlehem und Hebron im von Israel besetzten Westjordanland entsendet hat.

Gehet hin und lernet, was das heißt: ‚Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer’“ so spricht Jesus im Matthäusevangelium zu den Pharisäern, die ihn kritisieren, weil er mit Zöllnern, also mit Kollaborateuren der römischen Besatzungsmacht, zusammen isst. Ist Jesus die brutale Besatzung seiner Heimat etwa egal, dass er sich mit solchen Leuten einlässt? Schließlich wäre diese Besatzung ohne die Zöllner als Einnehmer der Steuern unmöglich.

Barmherzigkeit will ich nicht Opfer“ hier zitiert Jesus den Propheten Hosea, der ein paar Hundert Jahre früher gegen Ausbeutung gepredigt hatte. Es hört sich also nicht so an. Barmherzigkeit, auf hebräisch Chesed, könnte man auch mit Solidarität übersetzen. Es geht also darum, was Solidarität bedeutet, und mit wem man solidarisch sein soll.

Womit wir beim Motto der diesjährigen Friedensdekade wären: „solidarisch?“

Die Pharisäer meinten, sie könnten allein aus ihrer Auslegung der heiligen Schriften, also in der Theologie erkennen, was Solidarität heißt. Jesus legt auch die heiligen Schriften aus, aber er sagt auch, dass wir sie nur richtig auslegen, wenn wir uns in den Kontext der Anderen hineinbegeben, „in ihren Schuhen laufen“.

So hat er erkannt, dass auch die Zöllner vom römischen Imperium ausgebeutet werden und dass sie nur dadurch aufhören können selbst auszubeuten, wenn sie in die Gemeinschaft aufgenommen werden.

Auch ich wollte lernen, was das heißt: „Solidarität will ich, nicht Opfer“ und bin nach Palästina gegangen. Dabei hat mich lange Zeit der Text für heute aus Lukas 10 beschäftigt, mit dem ich über Solidarität nachgedacht habe.

Die Ernte zwar ist groß, aber die Arbeiter sind wenige“

Die Zeit der Ernte ist eine freudige Zeit: Endlich kann man die Früchte seiner Arbeit genießen. Beim Ernten machten wir oft Pausen und aßen selbst kiloweise die süßesten und saftigsten Trauben, die ich je aß. Bei Zelt der Völker kamen zur Ernte immer noch mehr internationale Freiwillige, um zu helfen. So wurde die Bitte um viele Arbeiter meist erfüllt.

Aber die Ernte ist auch eine Zeit großer Unsicherheit. Haben wir genug Helfer? Hält das Wetter? Und in Palästina auch immer die Frage: Werden wir überhaupt ernten dürfen. Oder hält das Militär uns unter Berufung auf Sicherheitsgründe davon ab. Für viele palästinensische Bauern ist das bittere Wirklichkeit.

Gerade in diesen Unsicherheiten heißt Solidarität nicht nur zu helfen, sondern auch da zu sein, damit man da ist, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist.

Im Arabischen gibt es ein Sprichwort: „bukra fil mishmish“ das heißt wörtlich: „Morgen gibt es Aprikosen.“ Es wird aber in dem Sinn von: „Niemals“ gebraucht.

Zum Beispiel wenn ich Palästinenser fragte: „Wann wird die Besatzung enden?“ „Bukra fil mishmish.“

Warum?

Es ist kaum vorhersehbar, wann die Aprikosen reif sind, und dann kann man sie nur ein paar Tage ernten, sonst sind sie matschig und nicht mehr transportabel. Deshalb geht die Ernte oft verloren.

Bukra fil mishmish.“ – Es wäre schön, aber es wird nicht passieren.

Und dennoch: Die Aprikosen werden reif, jedes Jahr. Die Frage ist, erkennen wir die Zeichen der Zeit und passen den richtigen Moment, den Kairos, ab, wenn die Aprikosen reif sind? Und habe ich dann genügend Arbeiter?

Solidarität heißt, nicht müde werden, die Hoffnung nicht verlieren und den richtigen Augenblick zum Handeln zu erkennen. Aber es heißt auch da zu sein, auch wenn die Zeit noch nicht gekommen ist.

Denn sonst verschlafen wir die Geschichte, wie die Jünger im Garten Getsemane, als ihr Freund Jesus ihren Beistand am meisten gebraucht hätte.

Manche palästinensischen Christen glauben, der entscheidende Moment, die Besatzung zu beenden ist schon gekommen. Sie haben das Kairos-Palästina-Dokument geschrieben, mit dem sie die weltweite Kirche dazu auffordern, sich mit ihnen in ihrem Leiden zu solidarisieren.

Nehmen wir ihre Herausforderung an, oder verschlafen wir die Geschichte um dann an Volkstrauertagen wie heute den Opfern unserer Untätigkeit zu gedenken?

Geht hin! Siehe, ich sende euch wie Lämmer unter die Wölfe. Tragt weder Börse, noch Tasche, noch Sandalen und grüßt niemandem auf dem Weg!“

Ganz ohne Gepäck bin ich nicht ausgereist und gerade auf festes Schuhwerk hat Daoud, mein Chef großen Wert gelegt. Aber ich habe mich oft wie ein Schaf unter Wölfen gefühlt. Wenn ich zum Beispiel auf einer Demonstration mit Palästinensern und israelischen Friedensaktivisten von israelischen Soldaten in meinem Alter mit Tränengas beschossen wurde. Wenn man vor Tränengas kaum atmen kann, und dann die Soldaten in ihren Uniformen sieht, ist es schwer in ihnen etwas anderes als Wölfe zu sehen.

Einmal nahm mich beim Trampen eine Siedlerin mit, die mir ausführlich erzählte, dass sie doch bedroht sei, von den terroristischen Palästinensern, deswegen gebe es doch die Mauer und die Soldaten. Meine naiven Fragen á la „Aber warum wohnen sie dann auf dieser Seite der Mauer?“ brachten sie nicht wirklich zum Nachdenken.

Niemand glaubt selbst ein Wolf zu sein, sondern immer nur ein Lamm.

Aber auch die Versuchung den Anderen nur als Wolf zu sehen, ist groß. Dank Gottes Gnade konnte ich immer wieder Menschen treffen, die aus ihren Rollen fielen.

Zum Beispiel Sharon, ein Siedler, der in der Begegnung mit Zelt der Völker beschloss, dass er immer noch auf dem Land leben will, aber nicht als Siedler, und dann teilweise bei uns wohnte und für uns Komposttoiletten baute.

Die wehrlose, menschliche Begegnung hatte sein Herz verändert und er konnte im Anderen den Menschen entdecken. Und nicht nur das, er half uns und kämpft zusammen mit Palästinensern gewaltfrei gegen die Besatzung und für eine gemeinsame Zukunft, die im Buch Jesaja mit den Worten beschrieben wird: „Wolf und Lamm werden zusammen weiden; und der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind.“

Solidarität heißt also wehrlos an der Seite der Unterdrückten zu stehen, und so den Unterdrückern ihre eigene Menschlichkeit vor Augen zu führen.

In welches Haus ihr aber eintretet, sprecht zuerst: Friede diesem Haus! Und wenn dort ein Sohn des Friedens wohnt, wird euer Friede auf ihm ruhen; wenn aber nicht, so wird er zu euch zurückkehren. In diesem Haus aber bleibt, und eßt und trinkt, was sie haben! Denn der Arbeiter ist seines Lohnes wert. Geht nicht au dem Haus in ein anderes! Und ich welche Stadt ihr kommt, und sie nehmen euch auf, da eßt, was euch vorgesetzt wird.“

Salaam aleikum“ ist der typisch Gruß unter Arabern, so wie Juden sich mit Schalom begrüßen. Aber wie schon Jeremia sagt: „Ihr sagt: Friede, Friede, aber es ist kein Friede.“

Wenn man zu einer Familie geht, deren Haus abgerissen wurde, weil sie dafür keine Baugenehmigung erhalten hatten, wie sage ich da: Friede deinem Haus?

Und doch habe ich gerade von Menschen die am meisten unter der Gewalt von israelischer Armee und Siedler litten die größte Gastfreundschaft erhalten. Und sie grüßten mich mit einem „Salaam“, bei dem ich spürte, dass es keine Floskel war.

Aber es fiel mir schwer, ihre Gastfreundschaft anzunehmen – hatten sie nicht viel zu wenig? Aber war es wirklich diese Sorge, oder vielmehr, dass ich geben wollte und nicht annehmen konnte?

Es dauerte sehr lange, bis ich wirklich verstand, dass Solidarität immer etwas Gegenseitiges ist.

Und heilt die Kranken in der Stadt und sprecht zu ihnen: Das Reich Gottes ist nahe zu euch gekommen.“

In der jüdischen Tradition ist die Aufgabe des Volkes Israel „hatikkun leOlam“ die „Heilung der Welt“. In meiner Arbeit konnte ich ein wenig davon sehen: die Bäume, die wir pflanzten und mühsam bewässerten, heilten das Land, das durch die unter Besatzung noch verschärfte Umweltzerstörung leidet. Und ein paar Mal sagten mir Palästinenser und Israelis, dass es ihnen Mut mache, wenn Menschen aus dem Ausland kommen und sich Zeit nehmen an ihrer Seite, gegen das Unrecht und für einen gerechten Frieden einzutreten.

Aber wie viel öfter verlor ich den Mut. Angesichts der Gewalt, die mir in Checkpoints, Zäunen, Mauern, Helikoptern und den allgegenwärtigen Gewehren begegnete. Und wie oft waren es Palästinenserinnen und Israelis, Christen, Muslime und Juden, die sagten: „Gib nicht auf, denn wir geben auch nicht auf. Weißt du denn nicht? Das Reich Gottes ist uns nahe gekommen?“

Einmal war ich in El Arakib, einem beduinischen Dorf, in der Negevwüste in Israel. Die Beduinen sind Staatsbürger Israels und dienen auch oft in der Armee, aber dennoch ist ihr traditioneller Lebensstil in Gefahr und sie sind massiven Diskriminierungen ausgesetzt. In diesen Tagen will die israelische Regierung einen neuen Anlauf starten, den sogenannten Prawer-Plan durchzuführen, in dem vierzigtausend Beduinen zwangsweise in Städte umgesiedelt werden sollen.

Das ist aber nur der vorläufige Höhepunkt der Diskriminierungen.

Dem Stamm von El Arakib wurden ihre traditionellen Weidegründe weggenommen, darauf pflanzte ein christlicher Fernsehsender einen Wald, da sie glauben durch diese Vertreibung die biblische Verheißung der blühenden Wüste zu erfüllen.

Die Häuser des Dorfes wurden bisher über dreißig Mal abgerissen. Die Bewohner haben sie jedes Mal aus den Trümmern wiederaufgebaut, bis die Polizei auch die Trümmer mitnahm. Jetzt wohnen sie dort in Zelten.

Als wir Aziz, den Sohn des Scheichs fragen warum er noch nicht aufgegeben hat, führt er uns dorthin, wo früher ihre Olivenbäume standen. Die Bäume wurden alle abgeschnitten, doch aus den Stümpfen wachsen wieder neue Triebe. In drei Jahren können sie schon wieder Frucht tragen. „Wenn die Bäume das überleben, wie könnte ich aufgeben und gehen?“

Und so lernte ich, dass solidarisch sein nichts Heldenhaftes ist.

Es misst sich nicht daran, wie viel Tränengas ich eingeatmet habe, oder wie lange ich im Gefängnis war.

Es misst sich daran, ob ich bereit bin, von denen zu lernen, denen ich zuerst nur helfen wollte und von denen ich mir nicht helfen lassen wollte.

Es misst sich daran, ob wir weiter daran glauben, dass die Aprikosen des Friedens morgen reif sein können. Ob wir mit Menschen wie Aziz weiter aus den Trümmern neue Häuser bauen. Und ob wir unsere Identität so begreifen, dass alle dazugehören können.

Nur so kann Solidarität entstehen und dann ist Gottes Reich uns nahe. Amen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.