Noch eine Antwort auf Bernd Kehren

Hallo Herr Kehren, danke für Ihre ausführliche Antwort.
Wie Sie glaube ich auch, dass diese Welt nicht perfekt ist, sondern unter Gewalt und Ausbeutung (Sünde!) leidet. An diesem Leiden haben auch wir Anteil und sind berufen, uns an die Seite der Opfer zu stellen und dem Bösen zu widerstehen – Mit Gutem! Doch wie geht das?
Gewaltfreier Widerstand ist m.E. ein zentrales Mittel dazu.

Aus der Fülle Ihrer Antwort nehme ich nur mir einen Punkt heraus, weil es sich hier um ein entscheidendes und leider sehr weiter verbreitetes Missverständnis der Funktionsweise zivilen Widerstands handelt.
Sie schreiben: „[Ziviler Widerstand] setzt voraus, dass der „Gegner“ sich davon beeindrucken lässt. Dass er zivilisiert genug ist, um dem Gegner, der ihm den Hals hinhält, nicht in der Gurgel zu beißen.“

Das stimmt nicht. Gewaltfreier Widerstand setzt nicht auf die „Zivilisiertheit“ des Gegners (erstaunlich übrigens dass die rassistischen und kolonialen Untertönen dieser Idee so unhinterfragt derzeit wieder laut werden…).
Vielmehr beginnt gewaltfreier Widerstand damit, dass „der Gegner“ kein monolithischer Block ist, sondern eine Vielzahl an Individuen und sozialen Gruppen, die den Willen des Herrschers tun. Ohne den Gehorsam dieser Menschen und Gruppen wäre der Herrscher machtlos. Dazu kommt, dass diese Menschen jeweils eigene Interessen & Werte haben und auch miteinander in Konflikt stehen, die aber vom Herrscher mittels Ideologie und Propaganda, aber auch durch Einschüchterung und Belohnung (natürlich jeweils durch andere gehorsame Menschen und Institutionen) bei Stange gehalten werden. Gewaltfreier Widerstand analysiert diese Zusammenhänge (Sharp nennt sie eindrücklich „Säulen der Macht“) daraufhin, wo das schwächste Glied ist, das zum brechen gebracht werden kann, oder welche internen Konflikte verschärft werden können.

Das wäre z.B. die Interessen der wirtschaftlichen Eliten, Geschäfte machen zu können, oder die Unbeliebtheit des Kriegs bei den eingezogenen Rekruten, oder bestimmte kriegswichtige Sektoren, die durch gezielte Sabotage oder die Nonkooperation kleiner Gruppen zum Stillstand gebracht werden kann. Eine solche Analyse könnte auch von Militärs gemacht werden (in der Tat ähneln bestimmte Art militärischer Strategie, insbesondere Guerilla-Taktiken und Terrorismus in frapierender Weise den gewaltfreien Strategien – mit offensichtlichen Unterschieden in der Umsetzung, versteht sich).

Der Punkt ist aber, dass sich zeigt, dass gewaltfreier Widerstand gerade im Vergleich einige Vorteile hat:

1) Partizipation: Zunächst ist es schlichtweg viel mehr Menschen möglich, sich an gewaltfreiem Widerstand zu beteiligen, als militärisch oder paramilitärisch zu kämpfen. Da Partizipation eine entscheidende Größe für den Erfolg oder Misserfolg einer Bewegung ist, ist dies ein entscheidender Faktor.

2) Innovation: Widerstand braucht viele und vielfältige Formen, um unvorhersehbar und unkontrollierbar zu bleiben und die Kosten einer Fortsetzung der Invasion/Besatzung weiter zu eskalieren, bis dem Herrscher nur eine Wahl bleibt: Rückzug oder den eigenen Sturz riskieren. Dies geht natürlich besser, je mehr Menschen sich auch autonom beteiligen. (Para)militärischer Kampf dagegen führt tendenziell eher zu Befehlshierarchien und zur Zentralisation von Macht.

3) backfire effect: Repression führt mittelfristig zur Solidarisierung mit den Angegriffenen (underdogs!) und damit trotz der Opfer eher zu einer Stärkung ihrer Position, während in einem Konflikt, der als symmetrisch wahrgenommen wird, Gewalt von Außenstehenden als „hinnehmbar“ interpretiert wird. (Indirekt führt dies oft auch dazu, dass der Gegner in seiner Fähigkeit Repressionen durchzuführen geschwächt wird, da er mit Sanktionen durch dritte Parteien und ggf. sogar Rebellion in den eigenen Reihen rechnen muss).

Dieser dritte Punkt ist es auch, warum ich, zusammen mit vielen, die gewaltfreien Widerstand erforschen, nicht an die viel propagierte Komplementarität von zivilem und militärischen Widerstand glaube. Zumindest nicht so einfach als Komplementarität, und auch nicht als Dialektik. Denn die Tatsache ist: die Anwesenheit von Waffen gefährdet Zivilisten, sie können nun als Kombatanten beschrieben werden. Natürlich nicht völkerrechtlich, aber in der russischen Propaganda. Dies gilt für einzelne Aktionen, aber wahrscheinlich auch für die größere politische Wetterlage insgesamt. Eine klare Unterscheidung der Akteure könnte helfen, um solche Manipulation entgegen zu treten. Anscheinend setzt die ukrainische Führung aber eher auf das Gegenteil, indem sie Zivilisten in Bürgerwehren bewaffnet und ähnliches. Ich verstehe, dass sie dies als notwendig zum Schutz ihres Volkes sehen. Aber man muss kritisch anmerken, dass es genau das Gegenteil bewirken kann.

PS: Und ja, übrigens haben all diese Menschen AUCH ein Gewissen, so „unzivilisiert“ unsere Medien sie beschreiben mögen. Gerade theologisch wäre doch daran festzuhalten! Auch das ist ein Ansatzpunkt für gewaltfreien Widerstand. Aber es ist nicht der einzige.

PPS: Übrigens ist ziviler/gewaltfreier Widerstand auch was anderes als „Frieden durch Handel“ oder Diplomatie, die Sie (und viele andere) immer wieder als Beispiele für das Scheitern gewaltfreien Widerstands nennen. Massiver und organisierter gewaltfreier Widerstand hat ebenfalls eine Abschreckungswirkung, so schätzen es zumindest die baltischen Staaten ein, die zivile Verteidigung in ihre Verteidigungsstrategie aufgenommen haben und offensiv darüber berichten.

PPPS: . Ich hatte versucht, das in meinem Eule-Artikel klarzustellen, aber Sie (und viele andere) haben es anscheinend überlesen. Dort schrieb ich:

„Anders als vielfach behauptet, ist das Ziel gewaltfreien Widerstands nicht, das Mitgefühl von Diktatoren zu wecken oder Unterdrücker zur Umkehr zu bewegen. Gewaltfreier Widerstand zielt vielmehr darauf ab, die Macht des Gegners zu schwächen, sodass dieser keinen Schaden mehr anrichten kann. Dazu analysiert man, auf welchen Säulen seine Macht ruht, identifiziert Schwachstellen und entwickelt Strategien, um diese auszunutzen und bestimmte Säulen zum Einsturz zu bringen. Gewaltfreier Widerstand versucht gezielt, Zugang zu Ressourcen zu begrenzen, interne Konflikte zu verschärfen oder einzelne Gruppen zur offenen oder verdeckten Non-Kooperation zu bewegen.“

Die Macht gewaltlosen Widerstands – https://eulemagazin.de/die-macht-gewaltlosen-widerstands/

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