Kate Raworth’s Donut Ökonomie – Rezension

Diese Rezension erschien im Frühjahr 2020 in der Brücke-Ausgabe „anders wachsen.“ Die englische Originalversion findet sich hier auf diesem Blog.

Für viele Menschen hat „die Wirtschaft“ einen schlechten Ruf, synonym mit Gier, Ungerechtigkeit und Klimawandel. Gleichzeitig betonen andere, dass nur die Wirtschaft unsere Probleme lösen kann. In der Corona-Krise erleben wir alle, dass „die Wirtschaft“ untrennbar mit dem Rest des Le-bens verwoben ist, und uns alle betrifft. Aber was genau ist eigentlich „die Wirtschaft?“ Wenn wir ehrlich sind, haben die meisten von uns nur eine vage Ahnung davon, was die ökonomischen Fach-begriffe, die wir in den Nachrichten hören, bedeuten. Die meisten Menschen sind ökonomische Analphabeten, obwohl Wirtschaftstheorie laut der britischen Ökonomin Kate Raworth „die wich-tigste Sprache der Welt“ ist.

Ihr kurzes und kurzweiliges Buch „Die Donut-Ökonomie“ setzt genau an dieser Stelle an. Es ist eine Art Sprachlehre für alle, die ahnen, dass ökonomische Fragen wichtig sind, aber im Wirtschaftsteil der Zeitung nur Bahnhof verstehen. Gleichzeitig ist es auch spannend für VWLerinnen, die mal über den neoliberalen Tellerrand hinausschauen wollen. Es ist ein Buch, dass hoffnungsvoll und neugie-rig stimmt, wie eine gerechtere und zugleich nachhaltigere Wirtschaftsordnung zu einem besseren und schöneren Leben für alle helfen könnte.
Raworth beginnt mit einem Paradox: das Nachdenken über die Wirtschaft (Wirtschaftstheorie) ist einerseits unabdingbar zur Lösung globaler Probleme, aber andererseits sind es gerade die Denkmuster und Bilder dieser Theorie, die maßgeblich zu diesen Problemen beitragen.

Einerseits besteht die zentrale Herausforderung des 21. Jahrhunderts darin, die Grundbedürfnisse aller Menschen zu befriedigen und gleichzeitig innerhalb der ökologischen Grenzen der Erde zu bleiben. Wie diese Spannung aufzulösen ist, ist für sie eine klassisch ökonomische Frage: Wie kön-nen begrenzte Güter dem maximalen Nutzen zugeführt werden?
Andererseits haben die vorherrschenden Wirtschaftstheorien des 19. und 20. Jahrhunderts diese Krisen beigetragen, wenn nicht gar hervorgebracht. Und sie scheinen unfähig, sie zu lösen. Also wir neue Wirtschaftsmodelle, Ideen und Bilder. Man könnte auch sagen: neuer Wein in neuen Schläuchen.

Das wichtigste dieser neuen Bilder ist der titelstiftende Donut, der die beiden begrenzenden Faktoren der „soziale Untergrenze“ und der „ökologische Obergrenze“ veranschaulicht. Anstatt wie so oft ökologische Nachhaltigkeit und Armutsbekämpfung gegeneinander auszuspielen, versteht Ra-worth die Spannung als Einheit, und sieht ihre Aufgabe als Ökonomin darin, sie zu versöhnen.
In sieben kurzen Kapiteln erklärt Raworth Kernbegriffe der dominanten Wirtschaftstheorie wie „Bruttoinlandsprodukt“, „Homo oeconomicus“, „Preisgleichgewicht“ oder „Kuznet-Kurve“ und bringt sie ins Gespräch mit neuen Ideen aus verschiedenen Disziplinen, insbesondere aus Psychologie, Systemtheorie und Komplexitätswissenschaft. Kurzweilig und verständlich führt sie den wirt-schaftlich ungebildeten Leser in die großen Debatten der Wirtschaftstheorie ein, von der wirt-schaftlichen Bedeutung von Familien und Gemeingütern im Verhältnis zu Markt und Staat, den Herausforderungen des Klimawandels und der Automatisierung bis hin zu der Frage, was Wachs-tum ist und ob es notwendig ist.

In prägnanter Weise erzählt sie, wie es dazu kam, dass die vorherrschenden Modelle akzeptiert wurden. Oft waren vorsichtige Gedankenexperimente von Ökonomen, die nach und nach von ih-ren Schülern der Vorbehalte entkleidet und in unhinterfragbare Dogmen verwandelt wurden. In ihrer Beschreibung des Dogmatisierungsprozesses betont Raworth die Macht von Bildern, die un-sere Vorstellungskraft sowohl anregen, als auch einschränken können. Raworth nimmt die neuro-wissenschaftlichen Erkenntnisse zur metaphorischen Struktur des Gehirns ernst und macht sich daran, neue Bilder zu schaffen, die sich besser zu unserem Erkenntnisstand passen und die alten Bilder verdrängen können.

Dabei versucht Raworth bewusst eine globale Perspektive zu präsentieren, um dem Übergewicht europäisch-westlicher Stimmen in der Wirtschaftstheorie entgegenzuwirken. Dank ihrer langjähri-gen Erfahrung bei Oxfam und als Beraterin bei internationalen Verhandlungen kann sie auf Beispie-le aus der ganzen Welt zurückgreifen, wie Menschen mit neuen wirtschaftlichen Ansätzen experi-mentieren. Besonders schätzte ich ihre immer wiederkehrende Verwendung der Abkürzung WEIRD (engl. Seltsam) für die vornehmlich aus Westlichen, Gebildeten (engl.: Educated), Industria-lisierten, Reichen und Demokratischen Gesellschaften stammenden Testsubjekte der meisten psychologischen Studien, die im globalen Vergleich eher die Ausnahme denn die Regel bilden.

Obwohl die Donut Ökonomie kein explizit theologisches Buch ist, bietet es – nicht zuletzt wegen seiner anthropologischen Orientierung (Anthropologie fragt „Wer ist der Mensch?“) –Anstöße für theologische Fragen. Raworth sieht den perfekt berechnenden, völlig egoistischen homo oecono-micus der Wirtschaftstheorie als eine gefährliche, selbst erfüllende Prophezeiung. Sie verweist auf Forschungen, die belegen, dass der Mensch im Vergleich zu anderen Arten in einzigartiger Weise zu fürsorglichem und prosozialem Verhalten fähig ist, und argumentiert, die Rolle der Wirtschaft darin besteht, diesen Aspekt der menschlichen Natur durch angemessene wirtschaftliche Strukturen zu fördern.

Das letzte Kapitel zu Wachstum ist wahrscheinlich das theologisch Interessanteste. Raworth ver-wendet eine direkt theologische Sprache, und rät dazu „Wachstumsagnostiker“ zu werden. Es gehe nicht darum, sein Vertrauen ganz in Wachstum oder Schrumpfen zu setzen. Vielmehr gehe es darum, Volkswirtschaften zu entwerfen, in denen die Menschen mit oder ohne Wachstum gedeihen können. Sie benutzt das Bild des Windsurfers, der auf den Wellen reitet, aber nicht von ihnen ab-hängig ist. Das derzeitige System ist dagegen wie ein Flugzeug ohne Fahrwerk: Es glaubt nicht nur an das ewige Wachstum, sondern ist auf es angewiesen, da es überhaupt nicht landen kann. Ra-worth beschreibt unsere finanzielle, politische und gesellschaftliche Abhängigkeit von ewigem Wachstum explizit als Sucht, geht aber leider nicht darauf ein, wie wir uns von dieser Sucht ent-wöhnen könnten. Vielleicht könnten wir hier etwas von den Prinzipien der Anonymen Alkoholiker lernen?

Raworths Buch ist ein Geschenk an alle, denen dieser Planet und die Menschheit am Herzen liegt. Indem sie die Wirtschaft entmythologisiert, gibt sie dem Leser das Wissen an die Hand, um zu der dringenden und längst überfälligen gesellschaftlichen Debatte darüber beizutragen, in was für ei-ner Wirtschaft wir leben wollen. Ihre Betonung von Bildern ist nicht nur wichtig, um über den Rati-onalismus hinauszugehen, sondern unterstreicht auch die Bedeutung von Künstler_innen in der Arbeit für einen gerechten Übergang zu einer nachhaltigen Wirtschaftsform. Während sich ein Großteil des Buches auf makroökonomische Strukturveränderungen konzentriert, die einen politi-schen Wandel erfordern, können einige, wie z.B. Genossenschaften oder die Verteidigung und Erweiterung der kulturellen und ökologischen Gemeingüter, auch hier und jetzt von kleinen Grup-pen von Menschen umgesetzt werden. Nachfolger_innen Jesu können von der Lektüre dieses Buches nur profitieren, um zu lernen, wie man „mithilfe des ungerechten Mammons Freundschaf-ten schließt, damit, wenn er zu Ende geht, man euch aufnehme in die ewigen Zelte.“ (Lukas 16,9)

Zusätzlich zum Buch gibt es auch eine Webseite, mit vielen spannenden Materialien, etwa kurze Videos, die die Ideen auf lustige Art und Weise zusammenfassen.

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