Mein irisches Tagebuch

Es ist jetzt schon zwei Wochen her, das ich heimgekehrt bin, aber jetzt komme ich endlich dazu euch einige der unzähligen Höhepunkte (es war fast ein Höhepunktgebirge) meiner Studienfahrt, die ursprünglich nur Nordirland beinhalten sollte, zu berichten.

Montag, 12.4., 6:00Uhr, Bammental: Ich muss aufstehen, und bin obwohl ich meinen Koffer schon vorher gepackt habe, bin ich zu spät. Kommen trotzdem pünktlich in Heidelberg an, ein Bus fährt uns nach Frankfurt, nicht ohne dass zuvor der erst von vielen Sprüchen wie: „Benni, ist das dein Koffer, der da noch am Straßenrand steht?“ geäußert wurde. Da ich meinen Palästinenserschal vorsorglich im Koffer verstaut hatte und mein Name scheinbar noch nicht auf der „terrorverdächtig, weil mal Arabischschüler“-Liste steht, darf ich einchecken. Der Flug ist ruhig, im Dubliner Flughafen, bekomme ich auf Nachfrage einen Einreisestempel, leider ohne Wappen… Wir bekommen eine Touristeninfo über Nordirland ausgeteilt, in der viel über Belfast und das Land steht, die Troubles aber mit keinem Wort erwähnt werden – es fühlt sich seltsam an. Noch ein Bus, der uns nach Belfast fährt, der Linksverkehr irritiert mich, was noch den Rest der Studienfahrt so bleiben wird. Ankunft in Paddy’s Palace, einem zurecht billigen Hostel, sichere mir ein Hochbett, um mir nicht den Kopf anzustoßen. Der Rest des Tages ist gefüllt mit einem Stadtspaziergang und einem Pubbesuch.

Das erste Guinness ist magenbeunruhigend schwer, schließlich darf man ein Guinness erst trinken, wenn man ihn den Schaum sein Gesicht malen kann. Die Liveband im Robinson’s infiziert mich mit dem Ohrwurm der Studienfahrt: 500 miles.

Dienstag, 13.5., 8:00 Uhr (eigentlich 9:00 Uhr in Deutschland): Spätes Aufstehen – zwei Daumen hoch. Nach dem Frühstück machen wir eine Busrundfahrt und steigen an verschiedenen Plätzen aus, um die wundervollen Vorträge der anderen Studienfahrtteilnehmer anzuhören, die (teilweise)  komplett aus Wikipedia kopiert eigenständig vorbereitet waren. Während der Rundfahrt kommen wir das erste Mal durch die Belfaster Viertel, die eine weltweite traurige Berühmtheit durch die Troubles, wie die Zeit der Kämpfe zwischen loyalistischen (Leuten, die weiterhin mit Großbritannien verbunden sein wollten) und republikanischen (denjenigen, die zum Rest von Irland gehören wollten) paramilitärischen Gruppen und zeitweise der britischen Armee in den 1970ern bis 1998 genannt wird, erlangten.

Es war faszinierend und beängstigend zugleich, durch die Straßen zu fahren, wo noch vor wenig mehr als einem Jahrzehnt, Bürgerkriegsstimmung und gleichzeitig „Normalität“ herrschte. Noch krasser war, dass man im Stadtkern, gar nichts von der Auseinandersetzung sah, dort gab es noch nicht mal Wahlplakate der Sinn Fein oder der Unionisten (gemäßigte Loyalisten); nur Plakate des nordirischen FDP-Äquivalent, nach Aussage eines Busfahrers: „Those people only get voted by doctors and they’re are just nonsense“ – Ist es nicht überall das Gleiche?

Das zweite Guinness wird schon besser…

Mittwoch, 14.4: Heute kriegen wir eine Führung durch Falls Street, dem katholischen Arbeiterviertel Belfasts, von Seamus, der zehn Jahre für die Unabhängigkeit als IRA-Mitglied im Gefängnis saß und heute für eine von der EU-finanzierte Organisation namens Coisture arbeitet. Er erzählt mitreißend von der Unterdrückung, die die Katholiken hier in Falls und ganz Nordirland erlitten, vom Beginn der Troubles, von der „Vergewaltigung der Falls“, als die Armee das Viertel nach Waffen durchsuchte, von den Hungerstreiks, bei denen sich IRA-Aktivisten im Gefängnis zu Tode hungerten, um als politische Gefangene anerkannt zu werden, vom Towel und Dirty Strike, bei dem sie sich weigerten Sträflingsuniformen zu tragen, sich in Laken wickelten und sich nicht mehr wuschen, er rechtfertigt den gewaltsamen Widerstand gegen die britische Unterdrückung und ich verstehe ihn, auch wenn ich weiterhin glaube, dass Gewalt keine Probleme löst, wie man in Falls sehen kann.

Am Übergang zur Shankill Road, dem protestantischen Arbeiterviertel, das von Falls durch meterhohe „peace lines getrennt ist, treffen wir unseren protestantischen Führer, der zehn Jahre für die Ulster Volunter Force im Gefängnis saß. Er und Seamus geben sich kurz die Hand, dann verschwindet Seamus so schnell er kann wieder nach Falls, ihm ist es immer noch deutlich unangenehm in Shankill zu sein. Unser neuer Führer redet viel davon, dass es ihnen ja auch nicht gut gegangen ist und wenn man die alten Häuser sieht, merkt man, dass hier schlicht und einfach zwei arme Schichten aufeinander gehetzt wurden. Davon, das Nordirland und Irland ja jetzt in der EU wären und man vorwärts sehen müsse. Er schafft es nicht uns seine Sicht der Dinge so nah wie Seamus zu bringen, dass ich seinen Namen vergessen habe, sagt auch schon genug aus.

Der Tag, reich an Eindrücken, endet mit einem von meinen Zimmergenossen gekochten Colcannon und dazu Guinness oder wahlweise Cider.

Donnerstag, 15.4.: Einen ganz Tag (fast) nichts politisches, sondern einfach nur die Landschaft genießen. Wir überqueren eine Brücke in schwindelerregender Höhe, sehen den Giant’s Causeway, eine einst von Riesen erbaute Landbrücke zwischen Schottland und Irland, die leider auch von Riesen zerstört wurde. Das Zertifikat fürs Überqueren der Brücke werde ich in meinen Lebenslauf einfügen und auch, dass ich im Atlantischen Ozean geschwommen bin, wodurch mein Herz den Rest des Tages seltsam schnell geschlagen hat. Die irische Landschaft ist unglaublich schön und es tut gut einen Tag lang ein einfacher Tourist zu sein und die ganzen politischen Zusammenhänge zu ignorieren.

Mittlerweile beschäftigen uns in der Gruppe auch ganz andere Dinge. Der Vulkan mit dem unaussprechlichen Namen ist ausgebrochen und wie es aussieht kommen wir nicht mehr nach Hause. Während wir Schüler sich freuen über die verlängerte Studienfahrt, versuchen unsere Lehrer herauszufinden, welche Möglichkeiten es gibt, doch noch irgendwie nach Hause zu kommen.

Guinness schmeckt mittlerweile richtig gut.

Freitag, 16.4: Der Bus fährt uns nach Stroke City – die Schrägstrich-Stadt. Dieser Name wurde von Journalisten geprägt, die den Vorwurf der Einseitigkeit umgehen wollten. Denn eigentlich heißt sie je nach politischer Gesinnung Derry oder Londonderry. Hier verschlossen einst die Apprentice Boys den katholischen Zurückeroberern das Stadttor, sodass Nordirland protestantisch blieb, und hier fand am 30. Januar 1972 ein gewaltfreier Bürgerrechtsmarsch sein blutiges Ende als britische Paratroopers, eine Art Elitesoldaten, das Feuer auf die Demonstranten eröffnete und 13 Menschen erschossen, die meisten davon in den Rücken, als sie gerade flüchteten.

Hier, im katholischen Arbeiterviertel, Bogside, treffen wir Bob Kelly, der hier schon sein ganzes Leben lang wohnt und als Kind und Jugendlicher die Troubles und Bloody Sunday erlebt hat. Er und zwei Freunde haben diese Erlebnisse in Gemälden verarbeitet, Gemälde, die auf Häuserwände gemalt wurden. Derry ist für diese Murals mittlerweile weltberühmt, aber Bob und seine Freunde kriegen keine Unterstützung von der Stadt oder von der Regierung nur von den Leuten von Bogside kriegen sie ein wenig Geld für die Farben. Die drei nennen sich die Bogside Artists und sind während der Sommermonate eigentlich immer in ihre Gallerie zu finden, die für alle offen ist.

Bob führt uns durch die Bogside und erzählt von Bloody Sunday, von den täglichen Kämpfen, die sich zwischen Polizei und republikanischen Jugendlichen entwickelten und so zur Regel wurden, dass man zur Teatime pausierte. Er erklärt die Geschichten der Bilder, die Farbwahl, die persönlichen Randnotizen.

Er erzählt, das jedes Haus in der Bogside mindestens zweimal durchsucht wurde, wobei alles zerschlagen wurde. Erzählt wie Freunde von ihm unbeteiligt am Konflikt waren, aber irgendwie zwischen die Fronten gerieten und dafür mit dem Leben bezahlten. Immer wieder deutet er auf Gesichter in den Bildern und erklärt, woher er diese Menschen kannte. Beim Bild Petrol Bomber erzählt er uns von den Kindern, die Molotowcocktails bauten und dachten, sie könnten sich mit kaputten Gasmasken aus dem Zweiten Weltkrieg vor dem Tränengas schützen, die die Wirkung in Wirklichkeit nur erhöht haben.

Dann erzählt er uns von Free Derry, dem Viertel, das die Armee nicht mehr wagte zu betreten, weil sich die Katholiken organisiert hatten und von der Frau, die sie organisiert hatte: Bernadette Devlin McAliskey, die daraufhin jüngstes Parlamentsmitglied in der Geschichte wurde. Heute setzt sie sich für Immigranten ein.  Der Tod der Unschuld, wahrscheinlich mein Lieblingsbild. Es hat einige Veränderungen durch gemacht, früher war der Schmetterling nicht ausgemalt, das Kreuz dunkler und das Gewehr (nicht gut zu erkennen) noch ganz. Durch den Friedensprozess haben die Künstler diese Dinge dann in den heutigen Stand verändert.

Bob inspirierte mich sehr, da er für mich ein Zeugnis ist, wie man um Erinnerung bemüht sein kann, die die geschichtliche Wahrheit der Unterdrückung und Ungerechtigkeit benennt, und trotzdem die Hand ausstreckt zur Versöhnung. Ganz anders ist da das Museum of Free Derry, das von einem Angehörigen eines der Opfer von Bloody Sunday geleitet wird und der Ungerechtigkeit gedenkt, aber jeder Hoffnungsschimmer erstickt in dem muffigen Gebäude in dem die ganze Zeit der Livemitschnitt von der Demonstration läuft, wie am Anfang gesungen wird, und die Stimmung plötzlich umschlägt…

Wir sprechen in unserer Zimmergemeinschaft über unsere Gedanken zur Führung und dem Museum. Meine Kamera funktioniert plötzlich nicht mehr.

Am Abend feiern wir unseren „letzten“ Abend mit den Lehrern – über eine halbe Stunde länger als ursprünglich erlaubt :D..

Samstag, 17.4.: Wir fahren mit dem Bus nach Dublin und singen Karaoke. Wir haben mit Glück ein Hostel einer anderen Studienfahrt, die im Gegensatz zu uns, die wir nicht von Irland runterkommen, nicht reinkommen, erhalten. Das ist sehr viel schöner als Paddy’s Palace, aber dafür verwinkelter (Treppe hoch, laufen, Treppe runter, Treppe hoch…) und teurer.

Meine Zimmergenossen und ich sehen uns Dublin an, das viel schöner, aber dafür langweiliger ist als Belfast. Der Lonely Planet ist unser Reiseführer.. Ob wir nach Hause kommen ist unsicher

Sonntag, 18.4.: Ich besuche mit einem Mädchen aus meinem Lateinkurs die lateinische Messe in der Dubliner Pro-Cathedral, die Stimmung ist so feierlich und der Weihrauch riecht gut. Der Chor singt wunderschön und wir verstehen die lateinischen Teile besser als die englischen. Mal ist der Luftraum offen, Mal nicht…

Montag, 19.4.: Wir entwerfen in Gruppen Stadtrallys und lösen dann die einer anderen Gruppe. Teilweise fehlen ganze Hinweise, aber irgendwie kriegen wir es doch hin und haben dazwischen riesig viel Spaß. Wir werden Dienstag unsere Odyssee nach Hause beginnen und feiern noch Mal unseren letzten Tag, jetzt aber wirklich.

Dienstag, 20.4.: Viel zu früh stehen wir auf und besteigen die erste Fähre nach Holyhead, Wales. Es gibt ein riesiges Gerangel bei der Ankunft bis wir endlich unser Gepäck haben. Dann durch Wales und England nach Hull, wo wir die Nachtfähre nach Zebrugge nehmen. Auf der Fähre erleben wir überteuertes Essen, räuberische Wechselkurse, Playback-Livekünstler, und Glück und Pech im Spiel. Wir werden in den Schlaf geschaukelt.

Mittwoch, 21.4.: Mein Frühstück fällt den Schwankungen auf hoher See zum Opfer, aber zum Glück gibt es an Bord ja ein Buffet. Als wir in Belgien ankommen fahren wir sofort mit dem Bus weiter und kommen abends endlich in Bammental an. Wobei wir von mir aus auch noch ein paar Wochen auf der grünen Insel hätten bleiben können…

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